Es ist ein Herbsttag, trügerisch sonnig und empfindlich kalt. Eine Zeitung unter dem Arm gehe ich in ein Straßencafé, bestelle Milchkaffee und friere. Ich friere in letzter Zeit ohnehin häufig, vor allem, wenn ich Zeitung lesen. Der Kellner kommt heraus, bringt mir den Kaffee. Ich greife die Tasse, nehme einen Schluck, spüre die warme Flüssigkeit in meinem Körper hinunterfliessen, die Tasse meine Hände wärmen. Nur meine Seele kann der Kaffee nicht erwärmen.
In der Zeitung findet sich auch nichts Erwärmendes, die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, und die in der Mitte werden weniger und verzichten ängstlich auf das, was ihnen zusteht. Eine Welt aus den Fugen, was Recht werden soll wird gekauft, und keine Form der Ausbeutung scheint mehr ausgeschlossen. Die Sonne des Wirtschaftswachstums scheint über Deutschland, aber sie scheint nur für Wenige. Für die Mehrheit sind ihre Strahlen pure Kälte und wir haben nichts mehr, was wir noch überziehen könnten.
Der Milchkaffee wird langsam leer, und die Zeitung geht zur Neige. Auf der letzten Seite finde ich einen Bericht über nachhaltige Investmentfonds. Das soll die positive Nachricht des Tages sein, doch glaube ich diesen Fondsmanagern gar nichts mehr - und allen anderen noch viel weniger. Unter diesem Bericht findet sich eine kurze Nachricht über neue Staatsbürgschaften für Großbanken. Was da nicht steht: Ich bezahle dafür, der Hartz-IV-Empfänger zahlt dafür, der Kleinverdiener ohne Mindestlohn zahlt dafür. Sonst niemand. Die Ärmsten bluten und die anderen gehen ins Casino. Mir wird schlecht. Ich stehe auf und zahle.
Auf dem Weg durch den Park treffe ich auf einen Obdachlosen, der frierend hinter einer kleinen Mauer sitzt und sich zu wärmen versucht. Ich gebe ihm meine Zeitung und meine Jacke noch dazu. Habe zwar auch nicht soviel, aber Mitleid leiste ich mir trotzdem. Der Obdachlose ist so verdutzt, dass er außer einem „Merci monsieur“ nichts herausbringt. Aber das ist mir schon Wärme genug. Zu hause wartet heißer Kaffee. Stark und schwarz. Und vielleicht auch etwas Wärme für die Seele. In der Sonne dieser Welt ist es einfach zu kalt.
starkerkaffee - 15. Okt, 21:05
Ich saß noch immer an der Theke des Jester‘s Door, trank meinen Kaffee und wartete gespannt auf die Dinge, die noch kommen würden. Jetzt war ich schon seit über vier Stunden in dieser Kneipe, in die mich ein Zufall, ihr absurder Name und das verwitterte Kneipenschild hineingetragen hatten. Es wurde nun immer voller, was vor allem daran lag, das die BAND gerade aufbaute und dabei über die kleine Bühne hinaus einigen Platz in Anspruch nahm. Ich betrachtete das Schachbrett, auf dem sich seit Stunden offensichtlich nichts bewegt hatte. Lediglich die Bärte der beiden greisen Spieler schienen länger geworden zu sein.
Am anderen Ende der Theke hatte sich der Jester in eine langwierige Diskussion über die Kommerzialisierung der Independant-Musik verwickelt, eine Auseinandersetzung, die durch den zunehmenden Alkoholpegel weder strukturierter noch logischer wurde. Mittlerweile handelte es sich eher um einen Monolog, und die beiden Zuhörer und ehemaligen Mit-Diskutanten nickten nurmehr mit dem Kopf, offensichtlich leicht genervt und nach einem Ausweg aus dieser Unterhaltung suchend.
Bambam! Das Schlagzeug hatte gesprochen, die Menschen starrten zur Bühne. Die BAND war fertig mit dem Aufbauen und es wurde leiser im Raum. „So, Leute, seid ihr bereit für „Worker‘s voice“?“ schrie der Sänger ins Publikum. Die Anwesenden murmelten begrenzt begeistert Dinge wie „Jo“ oder „wat denkt der denn“, aber das schien den Sänger, ein schmächtiger, langmähniger Typ in Heavy-Metal-Kluft, nicht weiter zu stören. „Na, dann legen wir los!“ schrie er erneut ins Mikro, doch bevor der Schlagzeuger, ein zotteliger Bär, der „das Tier“ aus der Muppetshow wie einen Abklatsch aussehen ließ, einzählen konnte, meldete sich aus dem hinteren Teil der Kneipe ein Gast lauthals zu Worte, der in Lederjacke und Jeans aussah wie ein typischer altlinker Studienrat: „Moment! Erstmal sind wir Genossinnen und Genossen, und nicht Leute, und außerdem ist es nicht demokratisch-sozialistisch, wenn Ihr hier ohne Basisbefragung einfach bestimmt, was ihr spielt. Das ist doch der Beginn der kapitalistischen Unterjochung, denn...grmpf“. Die beiden Wirte hatten gemeinsam mit einigen der Billard spielenden Punks den Störenfried unter dem Beifall der Gäste zum Schweigen gebracht. Er durfte den den weiteren Abend gefesselt auf einem Stuhl verbringen, mit einem Spezialbewacher, der ihm jedes Mal Bier einflößte, wenn er wieder den Mund aufmachte.
Die BAND konnte nun anfangen, ca. 20 Zuhörer standen direkt vor der Bühne und lauschten dieser Mixtur aus Covern klassischer Rocksongs, Ton-Steine-Scherben Varianten und eigenen Liedern, die sich vor allem durch Textanleihen aus Arbeiterlyrik und starken Bass- und Schlagzeugelementen auszeichneten. Insgesamt etwas amteurhaft aber sehr unterhaltsam, und das offenbar sehr textsichere Publikum wurde mit Dauer des Konzerts immer lauter. Es gab zwischen den Liedern selbstverständlich weiter Kommentare wie „Die waren auch schon mal besser!“ oder „das konnten sie gestern schon nicht und heute noch weniger“, aber insgesamt schien die Atmosphäre ganz gut zu sein. Ich wandte mich an Jens, um noch was zu trinken zu bestellen. „Wie oft spielen die hier?“ fragte ich ihn, und er schaute mich etwas verzweifelt an. „Jeden Abend. Jeden Abend die gleichen Lieder, ich kann es nicht mehr hören. Aber wenn wir sie nicht spielen lassen, verlieren wir die Hälfte unserer Kunden. Kurz nach Mitternacht ist Schluss mit dem Konzert, und Du siehst ja, es wird immer voller. Die Leute kommen für die letzten beiden Songs - man gut, dat is bald vorbei!“ Der Timemaster schaute auch ziemlich genervt drein, während er einer ziemlich alternativ gekleideten Frau in grüner Lederjacke erklärte, dass sie auch in sozialistischen Pubs für das Bier zahlen müsse. Dafür sei das Bier aber deutlich billiger als sonstwo.
Ich wandte mich wieder dem Konzert zu, das „Tier“ am Schlagzeug drehte gerade richtig auf, während das Publikum immer lauter einen Song namens „Worker‘s Welfare“ und die Internationale forderten.
Plötzlich wurde die Tür weit geöffnet, und zwei Punks schoben einen ca. 90 jährigen Mann in einem Rollstuhl in die Kneipe. Er wurde von den Umstehenden mit einem Kopfnicken begrüßt, während er mit seinem Stock auf den Boden schlug. Es war jetzt kurz vor Mitternacht, die BAND machte eine theatralische Pause und der Sänger versuchte die Stimmung anzuheizen, in dem er das Publikum fragte, was sie hören wollten. Statt begeisterten Rufen bekam er aber nun lediglich Sachen zu hören wie „Das weißt Du doch!“, „Das gleiche wie gestern - und vorgestern - und ...“ oder „laß den Quatsch und spielt endlich weiter“. Etwas konsterniert blickte der Sänger in die Runde, der Bassist zuckte mit den Schultern und begann mit den ersten Takten von „Worker‘s Welfare“. Die gesamte Kneipe sang mit, nur ich und ein paar Studenten an einem Tisch hinter mir schienen neu zu sein und kannten den Text daher nicht. Der Jester stand nun wieder auf dem Tresen und vollführte einen aberwitzigen Tanz, während ich versuchte, halbwegs zu verstehen, was da nun gegrölt wurde. Es schien ein nostalgischer Klassenkampfsong zu sein, ich verstand Fetzen wie „We are the Worker‘s Welfare, we are here for you“, „united in our struggle for justice, we take from the rich and give to the poor“ oder „free the people from slavery, cause we are slaves of money and greed“. Genau war das alles nicht zu verstehen, aber offenbar war es so etwas wie der Erkennungssong der BAND. Ich sah einige Leute, die sogar Tränen in den Augen hatten, darunter auch der mittlerweile wieder freigelassene Studienrattyp in seiner Lederjacke.
Am Ende des Liedes nahmen alle ihre Gläser, die letzten Töne klangen aus, es wurde still im Raum. Der Timemaster dimmte das Licht noch weiter, und der Sänger hauchte ins Mikro: „Kurt, warum sind wir hier?“ Der Alte im Rollstuhl erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und krächzte: „Aus Respekt vor den Leidenden, den Gefallenen, all jenen, denen Unrecht widerfährt, die Ausgebeutet werden. Mögen wir Ihnen bald Gerechtigkeit widerfahren lassen und das kapitalistische Elend beenden! Hoch die Internationale Solidarität“ Da erhoben alle ihre Gläser, tranken auf die Internationale Solidarität, und die BAND spielte „die Internationale“. Jeder sang mit, ich auch, man konnte sich nicht dagegen wehren, und am Ende des Liedes waren alle auf den Beinen, nickten sich zu, klatschten sich ab. Das Konzert war beendet, und ich setzte mich an einen Tisch mit den beiden Punks, die den alten Kurt hereingebracht hatten. „Ist das jeden Abend so?“ fragte ich sie. Der Kräftigere, der den Rollstuhl geschoben hatte, antwortete: „Ja, jeden Abend. Kurt hat als Jugendlicher im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Er ist so was wie ein Maskottchen hier - aber eigentlich kommt er jeden Abend nur deshalb runter, weil er vor Ende des Konzerts ohnehin nicht schlafen kann.“ Er grinste. Sein Kumpel ergänzte: „Meines Wissens geht hier nie jemand in der Gegend vor Mitternacht ins Bett, das Gegröle ist einfach zu laut und übertönt jede noch so schwachsinnige Volksmusiksendung um Längen. Hehe“ Sie schauten zu Kurt, der offenbar ins Bett wollte, und standen auf. Ich ging zurück an den Tresen und zu meinem Kaffee, war noch zu aufgewühlt, um nach Hause zu gehen.
starkerkaffee - 9. Okt, 14:06
Ja, ich weiß. Wieder einmal hat das Leben seinen Tribut gefordert und ich diesen meinen Blog vernachlässigt. Nun könnte ich mich herausreden, wir lebten in interessanten Zeiten, der Broterwerb habe Vorrang und im allgemeinen könne man ja nicht ständig bloggen. Richtig daran ist, dass ich neben dem Bloggen auch noch andere Verpflichtungen habe, die mich vom Schreiben abhalten - und ja, es kommt auch vor, dass mir gerade nichts einfällt. Aber das ist nicht das eigentliche Problem: Lassen wir uns nicht alle oft von den uns wirklich wichtigen Dingen abhalten, weil anderes vermeintlich wichtiger ist - und häufig bequemer? Jetzt gerade z.B. könnte ich mich bequem vor den Fernseher setzen oder WOW spielen, statt weiter an meinen Texten zu arbeiten, ob nun für den Blog oder andere literarische Formate. Die Versuchung, sich einfach entertainen zu lassen, sich durch den Alltag zu manövrieren und in seiner Freizeit einfach unreflektiert Unterhaltungsmedien zu konsumieren ist natürlich groß, bringt weder mich persönlich noch andere in irgendeiner Form weiter. Das soll nicht falsch verstanden werden: Kultur ist nicht nur in Form von Hochkultur, was auch immer das genau ist, etwas wertvolles. Wer die Simpsons sieht, setzt sich häufig kritischer mit der Zeitgeschichte auseinander als der durchschnittliche Zuschauer einer Nachrichtensendung. Das gefährliche ist die Betäubung durch die Medien, es bleibt ja nicht beim Sehen einer Sendung, beim Spielen eines Levels, eines Spiels - häufig ist die Faszination des Grauens so groß, dass man völlig ohne zu denken stundenlang vor dem Fernseher oder Computer sitzen bleibt und am Ende überhaupt nicht mehr weiß, was man gemacht oder gesehen hat.
Genau da bin ich wieder beim Anfang, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich mich in letzter Zeit zu sehr gehen lassen, einfache Unterhaltung dem eigenen Schaffen vorgezogen. Nicht das leere Blatt ist das Problem, es ist die Ablenkung vom Schreiben die das Erstellen von Texten so schwer macht. Bei diesem Gedanken habe ich Aldous Huxley's "Schöne Neue Welt" vor Augen, die Welt, in der die Menschen sich ständig mit Drogen/Medikamenten oder Unterhaltung betäuben, damit sie sich nicht mit negativen Stimmungen und Ereignissen beschäftigen müssen. Das ist einfach, und unsere Gesellschaft ist in vielen Bereichen nicht mehr weit von diesem Zustand entfernt. Um diesen persönlichen Albtraum zu vermeiden, gelobe ich also Besserung. Wenigstens, was den Blog angeht.
In diesem SInne erwartet Euch ein produktiver Herbst. Dem Kaffee sei Dank...
starkerkaffee - 6. Okt, 16:58
Mein Gesprächspartner: Nils, 34, Referent bei einer europäischen Partei
Ich sitze im Karsmakers(www.karsmakers.be), einem Coffeehouse gegenüber des Gare de Luxembourg. Der Laden hat die Atmosphäre eines Wohnzimmers, es ist hell, man kann es sich in Sesseln gemütlich machen, an längeren Holztischen auch mit mehreren Leuten arbeiten oder draussen auf der Terrasse die hoffentlich vorhandene Sonne geniessen. Eine kleine Bibliothek bietet Lesestoff vom National Geographic über Kaffeebände bis hin zu einer Che Guevara Biographie. Die meisten hier nutzen aber dann doch lieber den Wifi-Zugang und suchen etwas Ruhe zum arbeiten, wenn sie sich nicht gerade entspannt unterhalten.
Während ich noch mal bei einem Tee meine Fragen durchgehe, klingelt das Handy. Nils entschuldigt sich, es wird 10 Minuten später. Er habe beim Rausgehen seinen Chef getroffen, und das habe zu weiteren Arbeitsaufträgen geführt. Ich lasse mir also etwas Zeit und beobachte die anderen Gäste. Neben den üblichen Lobbyisten sitzen auch einige Studenten hier und arbeiten an Referaten oder Seminararbeiten. Der Eigentümer nimmt auch des öfteren seine Kinder mit, daher fühlt man sich hier auch wohl, wenn man keinen Anzug trägt. Das ist nicht unbedingt in jedem Café der Umgebung der Fall.
„Die Europäische Politik hat auf mich immer eine ungeheure Faszination ausgeübt“
Schließlich hat es Nils geschafft, und nachdem wir uns neue Getränke besorgt haben, beginnen wir das Gespräch.
Als Jugendlicher habe er eine Weile gebraucht, bevor er sich für eine feste politische Heimat entschieden habe. Demokratie bringe verschiedene gesellschaftliche Perspektiven zusammen und erst am Ende der Schulzeit habe er die innere Überzeugung gewonnen, für welche Perspektive er eintreten wollte. Dies sei die Sozialdemokratie gewesen. „Aber von der Europäischen Union war ich schon immer fasziniert vor allem wegen der Ratssitzungen. Die haben schon während meiner Schulzeit eine ungeheure Faszination ausgeübt, wegen dieser einmaligen Mischung zwischen politischer Ebene und diplomatischem Umgang.“
Nils trat 1998 in die SPD ein. Kurz darauf wurde er in der Bürgersprechstunde seines Stadtrats gefragt, was er denn in der Zukunft machen wolle. Da habe er geantwortet, er wolle einmal in Brüssel arbeiten und sozialdemokratische Politik vertreten. „Das wurde mit der amüsierten Bemerkung abgetan hier sei endlich unser Mann für Europa. In diesem Satz schwangen wohl zwei Botschaften mit: Zum einen, dass ich schon ziemlich abgehoben sei, wo ich doch gerade erst in die Partei eingetreten war. Und zum anderen die Überraschung darüber, dass sich überhaupt jemand für Europa interessiert.“
Dieses Interesse an Europa habe er tatsächlich schon früh entwickelt. „Ich habe zum Beispiel einen binationalen Studiengang belegt und die Hälfte meines Studiums in Italien verbracht. Zum Studienende habe ich dann ein Erasmus-Semester in Brüssel gemacht und hatte schon die Hoffnung, hier dann auch eine Arbeitsstelle zu bekommen. Und am Ende bin ich geblieben.“ Einem Praktikum bei einer Europaabgeordneten sei ein weiteres Praktikum bei der SPE (Sozialdemokratische Partei Europas oder im Englischen PES: Party of European Socialists) gefolgt, wo er dann eine feste Stelle bekommen habe.
„Die Politik der EU wird durch die konservativ-liberale Mehrheit im Rat bestimmt!“
„Was ist denn die eigentliche Aufgabe der SPE? “ frage ich nach. Er antwortet nach kurzem Nachdenken: „Letztlich werden die wichtigen Entscheidungen heutzutage auf globaler oder wenigstens europäischer Ebene getroffen. Wenn man als Sozialdemokrat etwas gestalten will, anstatt nur Abwehrkämpfe auf nationalstaatlicher Ebene zu führen, dann geht das nur über eine starke europäische Parteiorganisation. Ich betrachte die SPE als das Projekt der Zukunft, wenn es um sozialen Fortschritt, soziale Gerechtigkeit geht.“ Der letzte SPE-Parteitag habe die Weichen gestellt für ein gemeinsames Grundsatzprogramm, was bei 33 Mitgliedsparteien aus den 27 Mitgliedstaaten ein großer Schritt nach vorne wäre.
„Konkret machen wir Gegenvorschläge zu den konservativ-liberalen Initiativen der EU-Kommission. Das geht natürlich nur in wenigen Bereichen, aber unser Ziel muss es sein, den Menschen und den Medien begreiflich zu machen, dass europäische Politik auch anders aussehen kann, dass es die nationalen Regierungen sind, die diese Politik in Rat und Kommission durchsetzen und die konservativ-liberale Mehrheit im Europäischen Parlament, die eine wirkliche europäische Sozialpolitik unmöglich macht.“ Das sei ein langwieriger Prozess, aber man müsse damit anfangen, die politische Debatte aus dem EU-Viertel in die Öffentlichkeit zu tragen. Ansonsten werde es nie eine wirklich demokratische europäische Politik geben, trotz Parlament und Wahlen.
Ich unterbreche ihn kurz und frage, ob das denn kein mehr oder weniger aussichtsloses Unterfangen sei. „Das werden wir sehen. Ernsthaft hat es ja noch keine Partei versucht, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Unsere Bemühungen sind bis jetzt eigentlich recht erfolgreich mit unserer Medienarbeit, wenn man die Vorraussetzungen betrachtet, aber es reicht bei weitem noch nicht aus. Wir müssen weiter die Konfrontation mit dem politischen Gegner suchen, dann werden wir als europäische Ebene auch von den Medien stärker wahrgenommen.“ Ich frage Nils, warum dann in Deutschland nicht öfters etwas über die SPE zu lesen sei. Er antwortet mir, dass die SPD mit Martin Schulz als Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament über einen herrausragenden Vertreter der europäischen Sozialdemokratie verfüge und es daher nur verständlich sei, wenn sich die deutschen Medien bei ihrer Arbeit auf den SPD-Vertreter und S&D-Fraktionsvorsitzenden konzentrieren.
„Andererseits ist es auch Teil unserer europäischen Parteiarbeit, konkret Einfluss zu nehmen auf den Entscheidungsprozess. Zum Beispiel über die sozialdemokratischen Kommissare beziehungsweise über den Austausch mit den sozialdemokratischen Ministern und Regierungschefs vor den Ratssitzungen. Außerdem gibt es auch zwischen der Fraktion im Europäischen Parlament und der Partei eine Arbeitsaufteilung. Während die Fraktion ihr Augenmerk darauf richtet, bei der parlamentarischen Arbeit möglichst viele sozialdemokratischen Positionen in den Beschlüssen zu verankern und daher eine Kooperation mit anderen Parteien notwendig ist, kann die europäische Partei plakativer agieren und so die politischen Unterschiede in den Positionen klar erkennbar machen. Für die Zukunft würde Nils sich wünschen, wenn die Partei der Fraktion im Europaparlament einen formalen Auftrag zu Koalitionen und politischen Kooperationen geben würde, wie dies auf nationaler Ebene geschehe. So könnte für die Bürger die eigene politische Arbeit klarer erkennbar gemacht werden. Durch die historisch gewachsene Rolle des Europäischen Parlaments neigen die Fraktionen zur informellen, technischen Zusammenarbeit. Da sei es dann für die SPE mitunter schwer zu vermitteln, warum manche Entscheidungen gegen die Sozialdemokraten getroffen wurden.
„Eine Europäische Öffentlichkeit kann man nur von beiden Seiten entwickeln: Die Basis und Brüssel dürfen kein Gegensatz sein.“
„Das Problem ist, dass wir europäische Debatten auch in die Mitgliedsparteien tragen müssen. Dabei muss die Zusammenarbeit und Koordinierung mit den Mitgliedsparteien gestärkt werden. Diese Forderung kommt gerade auch von den Mitgliedsparteien, die regelmäßig in ihren Programmen schreiben: Die SPE muss stärker werden. Aber eine einfache Aufgabe ist das nicht, denn es handelt sich vielfach um ein Mentalitätsproblem: Die Erfolge von Sozialdemokraten und Gewerkschaften wurden im Rahmen der Nationalstaaten errungen. Aller internationalistischer Rhetorik zum Trotz fällt es nun schwer, die EU als Chance zu sehen und sich nicht auf Abschottung und Konkurrenzdenken zurückzuziehen.“ Deshalb sei die SPE auch dabei, den direkten Kontakt zu den europäisch interessierten Parteimitgliedern an der Basis zu stärken.
Ich bin etwas skeptisch: „Wie soll das gelingen?“. Nils lächelt. Er sei für das Projekt der so genannten SPE-Aktivisten zuständig. Man organisiere durch dieses Projekt europaweit Parteimitglieder in Gruppen, die sich für die EU und europäische Themen interessierten. „So wollen wir einerseits einen Mentalitätswandel vor Ort einleiten, als auch den direkten Kontakt zur Basis bekommen. Es ist ja richtig: Die europäische Ebene muss raus aus dem Elfenbeinturm, und das muss man organisieren. Wir haben jetzt 110 Aktivistengruppen, der Austausch ist äußerst wertvoll, weil so auch die Basis der Mitgliedsparteien voneinander lernen kann.“ Seines Wissens sei die PES die einzige Partei, die ein solches Projekt initiiert habe. Die Teilnahme von Aktivisten als Vertreter der Parteibasis habe bereits viele Parteiveranstaltungen bereichert.
„Es gibt weltweit nirgends so viele Idealisten auf so engem Raum“
Wir brauchen eine kurze Pause, das Café ist nach wie vor recht voll, obwohl es langsam auf den Abend zugeht. Wir holen uns noch einen Kaffee, und ich frage Nils, ob er sich in Brüssel eigentlich wohl fühle? „Hmm“. Er grübelt ein wenig. „Also Brüssel ist für mich eine Stadt ohne einen Kern, ohne eine einheitliche Identität. Vor allem gibt es hier Parallelwelten: die flämische, die wallonische, die arabischen, die afrikanischen und die EU-Community. Zwischen diesen Sphären gibt es selten einen Austausch, daher geht auch der Kontakt zwischen der EU-Community und der Normalbevölkerung verloren - was schon problematisch ist. Dabei gibt es wohl weltweit nirgends so viele Idealisten auf so engem Raum wie hier im EU-Viertel.“ Brüssel selbst gebe sich große Mühe, die Lebensqualität zu verbessern. Jedoch ist sie seiner Meinung nach immer noch deutlich geringer als in anderen europäischen Metropolen. Gerade das Verkehrssystem, die Kriminalitätsbekämpfung sowie die Bausubstanz der Wohnungen seien verbesserungswürdig.
Was, er von Belgien als Land halte, möchte ich wissen. Da kommt Nils auf die wiederkehrenden Regierungskrisen in Belgien zu sprechen. „Ich habe ein wenig Angst, dass Belgien ein böses Omen für die EU sein könnte. Belgien ist für mich nicht wirklich ein Nationalstaat, sondern eine Konstruktion, die verschiedene Volks- bzw. Sprachgruppen unter einem Dach beherbergt. Viele Belgier haben gar keine Beziehung zu Belgien, sondern fühlen sich als Flamen oder Wallonen. Daher gilt für Belgien wie für die EU: wenn verschiedene Identitäten verbunden werden sollen, muss auch eine emotionale Beziehung zum Gesamtgebilde hergestellt werden. Die Menschen müssen das als Teil ihrer Identität empfinden.“ Daran mangele es Belgien wie der EU. Es helfe niemandem, wenn man Europa intellektuell herleiten könne, solange sich die Bürger nicht emotional mit dem Projekt verbunden fühlen.
Wir beenden das Gespräch, und trinken langsam unseren letzten Kaffee. Es ist bereits nach 18 Uhr, das Café schließt ohnehin gleich. Nils muss gleich noch an den Schreibtisch, Brüssel schläft nie und die Partei ohnehin nicht. Wir gehen, sind fast die letzten an diesem Abend und ich genieße die Sonne, während ich durch den Parc Léopold den Heimweg antrete.
starkerkaffee - 14. Jul, 15:06
Das dritte Interview: Heinrich, 33, Mitarbeiter einer NGO
Ich habe mich mit Heinrich auf dem Place de Londres verabredet. Es ist ein sonniger Mittwochabend, mit viel Glück ergattere ich noch einen Tisch. Viele Menschen geniessen den Feierabend, nachdem sie ihrer Arbeit und damit den klimatisierten Bürobauten entkommen sind. Wie so häufig findet sich eine bunte Mischung von Menschen hier ein, und an solchen Sommertagen hat Brüssel so etwas wie einen mediterranen Touch.
Während ich auf Heinrich warte, bestelle ich mir ein Wasser. An zwei Nachbartischen scheinen Geburtstage gefeiert zu werden, es wird viel Wein und Cidre getrunken. Heinrich kommt nach einigen Minuten, bestellt sich ein Bier. Er erzählt, er sei im Prinzip relativ entspannt, da er letzte Woche einen größeren Projektantrag abgeben konnte. Er dreht sich eine Zigarette und lehnt sich zurück, geniesst den warmen Sommerabend.
„Deutschland ist mir zu hierarchisch“
Wie er nach Brüssel gekommen sei, frage ich ihn. „Hmm, eigentlich über das Studium. Ich habe ja an der Universität von Kent studiert, die sich vor allem als Europäische Universität in Großbritannien profilieren will. Daher unterhält die Universität auch Außenstellen in Paris und Brüssel. Ich bin also für den Masters-Studiengang nach Brüssel gekommen, nachdem ich meinen Bachelor in Canterbury abgeschlossen hatte.“ Was er denn studiert habe, hake ich nach. „International Conflict Analysis. Danach bin ich für drei Monate nach Afrika in ein liberianisches Flüchtlingscamp gegangen, um mir die Realität vor Ort mal anzusehen.“
Er habe kurz darauf ein Praktikumsangebot im Bereich Finanzjournalismus in Brüssel angenommen und sei letztlich hier hängen geblieben. Ob er denn schon immer nach Brüssel wollte, will ich wissen. „Also, ich war schon immer an Politik interessiert, aber ins Ausland zu gehen wurde für mich erst spät zu einer Option. Ich hatte in Deutschland ein Jurastudium begonnen, aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist. Daraufhin bin ich einige Monate meine Sprachkenntnisse aufgebessert, und da kam mir schließlich der Gedanke, ins Ausland zu gehen. Das Studiensystem in England kam mir dann auch viel mehr entgegen, es war interessanter und besser strukturiert, auch verständlicher.“ Er habe nach Studienbeginn zunächst kaum Kontakt zu anderen Deutschen gehabt, und bald für sich festgestellt, dass er nicht nach Deutschland zurückwolle. Es sei ihm einfach zu hierarchisch organisiert, vieles zu formal. Da komme ihm Brüssel und sein jetziges Arbeitsumfeld schon weit mehr entgegen.
„Ein angenehmes Arbeitsumfeld ist mir wichtiger als ein hohes Einkommen“
Ich frage nach, für welche Art von NGO er denn arbeite? „Es handelt sich um eine Europäische NGO, eine Dachorganisation für Arbeitgeber und Dienstleister für Behinderte, also vor allem Bildungsträger und unterschiedliche Formen von Behindertenwerkstätten. Wir haben auch nur ein kleines Büro, es arbeiten letztlich nur zwei Leute halbtags hier. Damit sind wir eine Anlaufstelle, versuchen die anfallende Arbeit zu erledigen - aber proaktiv oder vorausschauend lässt sich so natürlich nicht arbeiten.“ Er selbst sei offiziell für Kommunikation zuständig, also im wesentlichen für die Pressearbeit, den Kontakt zu den Mitgliedern und die Website. Eigentlich. Denn letztlich sei er doch ein „Mädchen für alles“, verfolge die politische Agenda, sei für Fundraising und Verwaltung zuständig usw. Sicherlich würde er durch diesen Job keine finanziell lukrative Karriere machen, aber das nette und soziale Arbeitsumfeld sei ihm wichtiger. „Die Leute, mit denen ich arbeite, kommen ja aus NGO‘s, das sind ja normalerweise soziale, engagierte Menschen, die über die Arbeit auch persönliche Kontakte knüpfen. Außerdem brauche ich keine Gewissensbisse wegen meiner Arbeit zu haben. Das ist doch etwas sehr Angenehmes.“
Es ist nach wie vor angenehm warm und wir bestellen uns eine weitere Runde Getränke, während er nebenbei weiterraucht. „Was macht ihr denn genau? Wie sieht Deine Arbeit aus?“ frage ich nach einer kurzen Pause. Heinrich gönnt sich noch einen Schluck bevor er antwortet: „Da wir ja ohnehin in Brüssel sitzen, ist Lobbying natürlich ein Teil unserer Arbeit. Wir suchen vorwiegend die Kooperation mit anderen NGO‘s - wie z.B. dem European Disability Forum als Dachverband aller Behindertenorganisationen oder der Social Platform als Zusammenschluss der NGO‘s aus dem Sozial- und Gewerkschaftsbereich. Unsere Hauptaufgabe liegt aber eher beim Wissenstransfer zwischen unseren Mitgliedsorganisationen.“ Sie hätten im Augenblick über 40 Mitgliedsorganisationen in fast 30 Ländern, und der Austausch sei besonders hilfreich seit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU. Aber auch in Westeuropa gebe es noch große Unterschiede gerade bei der Behandlung von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt. In Großbritannien und Irland würden Behinderte zusehends als gleichberechtigte Arbeitnehmer behandelt werden („supported work“), die auch entsprechend bezahlt werden müssten. In anderen Ländern sei das Konzept noch nicht so verbreitet, so dass Behinderte dort nach wie vor stärker in sozialen Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten tätig seien(„sheltered work“). Dies sei eine spannende Debatte. Aber sie seien auch unterstützend in Kroatien und der Türkei aktiv, im Rahmen der Vorbereitungen für die EU-Beitritte.
„Behindertenrechte werden mittlerweile selten kontrovers diskutiert“
Welche Rolle die EU denn für Behinderte und die Arbeit mit Behinderten spiele? „Die EU spielt in ganz vielen Bereichen für die Arbeit mit Behinderten eine große Rolle. So sind die Regelungen in der Arbeitszeitrichtlinie für uns elementar, ebenso die Wettbewerbsregeln. Denn gerade die Werkstätten, die nach dem „supported work“ Ansatz arbeiten, werden ja durchaus als Wettbewerber gesehen. Da müssen wir schon aufpassen, was die EU-Kommission als staatliche Förderung für diese Arbeit für zulässig erklärt.“ Auch im Bereich des Zugangs zu Transportmitteln seien die EU-Regeln zu beachten. Außerdem sei die EU 2009 der UN-Konvention über den Schutz von Menschen mit Behinderungen beigetreten, und werde nach der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten dann auch Vorschläge für die konkrete Umsetzung machen. Dies sei das erste globale Menschenrechtsabkommen, dem die Europäische Union direkt beigetreten sei, und nicht nur die Mitgliedstaaten der EU.
„Aber im allgemeinen sind Behindertenrechte nichts kontroverses, wir stossen eigentlich überall auf offene Ohren“ setzt Heinrich fort. So sei vor allem die Wirtschaft in der Regel recht flexibel und willig, wenn man auf sie zuginge. Beispiele seien Microsoft und IKEA, die ihren Mitgliedern sehr entgegenkämen. Schwierigkeiten gebe es manchmal mit den Gewerkschaften. „Die kommen dann ab und an mit dem Argument ‚Da kommen jetzt Behinderte als Billiglöhner und nehmen unseren Leuten die Arbeitsplätze weg‘. Das sind aber oft Missverständnisse, die sich in Gesprächen normalerweise ausräumen lassen. Wir wollen ja, dass Behinderte angemessen bezahlt werden, also wenigstens den Mindestlohn bekommen, den es ja außer in Deutschland überall gibt.“ In England und Irland wäre das auch bereits durchgesetzt worden. Es gebe z.B. auch Überlegungen von Mitgliedsorganisationen, Behinderte verstärkt bei einfachen Pflegetätigkeiten einzusetzen. Er sei gerade dabei, nach bereits existierenden Projekten in diesem Bereich zu suchen, um die Erfahrungen weiterleiten zu können. Das sei es auch, was seine Arbeit auszeichne: konkret weiterhelfen zu können. Allerdings sei er nach wie vor dabei, die Kommunikation mit den Mitgliedern zu verbessern. Da blieben Informationen doch zu oft hängen.
„Belgien ist irgendwie anders - und dabei ziemlich sympathisch“
Ich frage Heinrich, ob er sich in Brüssel wohl fühle. „Ich finde, in Brüssel lässt es sich extrem gut leben. Es ist nicht zu groß, verhältnismäßig günstig, es gibt viel Kultur, fast alles ist fußläufig. Daher sind Metropolen wie Paris oder London auch ziemlich uninteressant für mich, dort verbringt man einfach zu viel Zeit mit pendeln.“ Vor allem die Internationalität fasziniere ihn, das flämisch/wallonische, die unterschiedlichen Europäer, das geniale afrikanische Viertel, der arabische Einfluss, die ganze Multikulturalität. „Es wissen glücklicherweise nicht so viele, dass Brüssel so toll ist. Man kommt zum Praktikum, als Tourist oder ist befristet hier und findet es scheiße. Meistens, ohne die Stadt wirklich entdeckt zu haben. Dabei gibt es hier so schöne Viertel und Ecken, und jede Menge Jobmöglichkeiten. Ich möchte hier auch im Moment nicht mehr weg - nur Wasser, also das Meer, ein See oder Fluß fehlt dieser Stadt, das ist der einzige große Nachteil.“
Bevor ich das Gespräch beende, frage ich ihn noch nach seiner Einschätzung zu Belgien. Im Grunde habe er keine, meint Heinrich, er lebe ja in Brüssel. „Das ist hier irgendwie anders, es ist weder Flandern noch die Wallonie, und leider habe ich nicht so viel Kontakt zu wirklichen Belgiern. Grundsätzlich sind die meisten aber sehr nett. Sicher sei Belgien etwas anders organisiert als Deutschland oder Schweden, es ist chaotischer, aber entspannt und sympathisch“. Aus seiner Sicht seien die Arbeitnehmerrechte in Belgien schon sehr gut, die ganze Deregulierungswelle habe hier nicht stattgefunden, wohl auch aufgrund des komplizierten belgischen Föderalismus. Insgesamt sei er hier mit den staatlichen Leistungen ohnehin sehr zufrieden, Belgien sei einfach ein nettes kleines Land. Dabei leert er genüsslich sein Bier, und neben den Fritten ist Bier ja die wichtigste kulinarische Spezialität in Belgien.
Das Interview ist vorbei, es ist mittlerweile kühl geworden und ich bestelle mir noch einen Kaffee. Auch der Place de Londres ist nun leerer, aber immer noch recht belebt. An solchen Abenden hat Brüssel wirklich Flair - und ich geniesse meinen Feierabend.
starkerkaffee - 6. Jun, 15:04
Ich hatte mir ein weiteres Bier bestellt, setzte mich zurück an den Tresen und schaute mich um. Die beiden schachspielenden Männer saßen immer noch vor ihrem Brett, jeder einen Becher Kaffee neben sich. Ich konnte wirklich nicht sagen, ob auch nur eine Figur auf dem Brett ihre Position verändert hatte, die beiden Männer schienen sich jedenfalls nicht zu regen. Ein paar Studentinnen saßen an einem anderen Tisch und diskutierten bei Kaffee und Wein über die postmoderne Literaturtheorie. Klang alles ziemlich halbwissend, aber na ja.
Mein Bier war inzwischen leer und ich brauchte mal eine Pause, drehte mich zu Jens und dem Timemaster um, die sich gerade über die weitere Musikauswahl für den Abend unterhielten. „Kann ich eine Tasse Kaffee haben und noch so eine gemischte Platte mit Häppchen?“ Sekunden später drehte sich Jens um und knallte mir einen großen Becher Kaffee mit der Aufschrift „Sex or Revolution? Why not having both?“ vor die Nase. „Tassen gibt‘s hier nicht, und ja, Kaffee wird hier grundsätzlich schwarz getrunken, wir haben zu viele Grufties als Kunden, die woll‘n wir nicht vergraulen!“ Ich schluckte. Ein Blick auf die Karte sagte mir, dass der Becher lediglich fünfzig Cents kostete, da konnte ich mich nun schlecht beschweren. Der Timemaster brachte mir auch schon den gemischten Snackteller. Ich fragte möglichst freundlich: „Nennen die sich noch Grufties? Ich dachte die heißen jetzt Goths?“ Das war ein schwerer Fehler. Jens explodierte fast: „Goths? Vertell hier nich so nen Blödsinn. Dat sind und bleiben Grufties. So nen modischen Neusprech lassen wir hier nich zu. Und jetzt mach den Kopp zu und trink Kaffee!“
Ich trank also brav den Kaffee, der in der Tat verdammt gut schmeckte, und wartete. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, eine merkwürdige Gestalt trat ein, die sich in einer Art Selbstgespräch selbst zu beschimpfen schien. Er trug ein schillernd grünes Sacko, Jeans, Turnschuhe sowie eine skurril anmutende Hornbrille. Leicht nach vorn übergebeugt lief er zunächst im Eingangsbereich der Kneipe hin und her, dann im Kreis, mit sich selbst im Dialog: „Nee, nee, nee, das darf doch nicht wahr sein! was für ein Idiot bist du eigentlich? Nur Arschlöcher, Ausbeuter, Blutsauger! Alles Wixer! Ich muss damit aufhören“ Dabei schüttelte er ständig seinen Kopf. Der Timemaster hatte in der Zwischenzeit drei frisch gezapfte Pints Guiness an einen bislang leeren Platz der Theke positioniert. Die Gestalt sah kurz auf, erblickte die Biere und steuerte zielstrebig auf die Theke zu, um im Hinsetzen bereits das erste Glas zu leeren.
Ich beugte mich zu Jens vor und flüsterte ungläubig: „Ist das etwa der Jester?“. Jens lächelte amüsiert und zwinkerte: „Jo, das isser. Leibhaftiger geht‘s nich“. Die anderen Gäste schienen sich nicht weiter für diesen Auftritt zu interessieren, offenbar geschah das tatsächlich regelmäßig. Ich betrachtete den Jester genauer, das zweite Glas war schon fast leer. Er bemerkte meinen Blick, musterte mich. „Neu hier?“ baffte er mich an. „Äh, jjaaa“ stammelte ich. Er nickte, leerte das Glas und griff sich das dritte Pint. „Beste Kneipe der Welt. Mein Refugium. Den Irrsinn außerhalb des Jester‘s Door ertrage ich kaum noch, ich brauche immer drei Bier, bevor ich mich beruhigt habe.“ Ich nickte. „Ah, ok, verstehe“ - dabei verstand ich gar nichts. Der Timemaster beugte sich zu mir vor und flüsterte: „Der Jester ist in der Werbebranche, aber eigentlich Sozialist im Herzen. Der hält den inneren Widerspruch nich aus, aber dat wirste schon noch zu hören bekommen.“ Ich bestellte mir einen weiteren Kaffee.
Dann begann der Jester wieder zu reden, halb mit mir, halb mit sich selbst. Er redete und trank in einer unglaublichen Geschwindigkeit, stoßweise schluckte er das Bier herunter. „Ich verkaufe meine Seele, jeden Tag. Ich mache Werbung für Medikamente, Versicherungen, Banken - nenne etwas Böses, ich bewerbe es!“. Er wurde bei seiner Tirade beinahe hysterisch. „Ich lege Ihnen Werbeanzeigen vor, die sie entlarven, enttarnen sollen - und sie finden sie großartig! Das spreche ein junges und aufgeklärtes Publikum an. Nein, nein, selbst die Wahrheit ist zu nichts anderem als Unterhaltung verkommen. Traurig, traurig.“ Er wurde still, schaute in sein Glas, leerte es, der Timemaster war sofort mit einem neuen Glas zur Stelle. Ich fragte ihn direkt, wieso sie ihn denn denn „Jester“ und nicht Narren nannten? Er lächelte: „Eigentlich begann es mit meiner Leidenschaft für Marillion. Die haben auf ihren ersten Plattencovern immer eine Narrenkappe drauf gehabt. Na ja, und im Moment fühle ich mich auch wie ein Hofnarr der Wirtschaft - und die Werbung spricht ja eh englisch.“ Er seufzte. „nee, nee, nee, das ist all das Geld nicht wert. Ich schäme mich dafür. Ich vertrinke den größten Teil meines Geldes hier, als Selbstgeißelung - und weil ich so das letzte bißchen Heimat erhalte“ Er brummte vor sich hin, Jens und der Timemaster schüttelten mit dem Kopf und arbeiteten weiter.
Ich drehte mich um, mittlerweile schwirrte mir der Kopf. Die Kneipe hatte sich gefüllt. Ich fragte Jens, ob es noch Livemusik geben würde. „Jo, gibt es. Jeden Abend. Immer dieselbe.“ Ich schaute ihn etwas verdutzt an: „Dieselbe?“ fragte ich nach. Der Timemaster klärte mich auf: „Wir haben hier die BAND. Was besseres gibt es nich, und was anderes könnten wir uns och nich leisten. Ab und an bringen die mal Freunde mit, aber mehr zum Jammen.“ Aha, dachte ich bei mir. Hier wunderte mich gar nichts mehr. Plötzlich sprang der Jester auf, kletterte auf den Tresen und rief: „Genossen und Genossinnen, die nächste Runde geht auf mich! Seht es als Buße für meine kapitalistischen Sünden..“ Mit gesenktem Kopf stand er da, während alles zur Theke stürmte. Mit erstaunlicher Gelassenheit fertigten Jens und der Timemaster die Freirunde ab. Dann wechselte der Timemaster die Musik, es erklang „Script for a Jester‘s Tear“, wie ich später erfuhr, und prompt sang der Jester, mit Tränen in den Augen. Die anderen Stammgäste sammelten sich um ihn, und stimmten bei der Strophe „I act the role in classic style of a martyr carved with twisted smile; To bleed the lyric for this song to write the rites to right my wrongs; An epitaph to a broken dream to exorcise this silent scream; A scream that's borne from sorrow“ lauthals mit ein. Ein unheimlicher, trauriger und mitfühlender Chorus, der in einem lauten „Hail the Jester“ endete. Alle hoben das Glas und prosteten sich zu.
Der Jester wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stieg von der Theke runter, die anderen Gäste nahmen langsam wieder Platz. Ich fragte den Timemaster, ob das jeden Abend so sei? „Nee, heute geht‘s ihm besonders schlecht. Passiert so ein- bis zweimal die Woche. Da hilft dann nur sein Lied“. Hmm, nach dem Auftritt war ich auf die BAND doch sehr gespannt. Waren die Verrücktheiten noch zu Steigern? Ich nahm mir noch einen Kaffee, und der Jester trank und trank...
starkerkaffee - 4. Jun, 15:50
Bitte Vorspann zum ersten EU-Blog beachten.
Das zweite Interview: Estelle, 29, Mitarbeiterin einer französischen Europaabgeordneten
Ich treffe Estelle im Charles Quint, einer relativ neuen Kneipe/Brasserie an der Ecke vom Place Luxembourg, direkt neben dem Europäischen Parlament. Es ist der Freitag nach Himmelfahrt, für viele eigentlich ein Brückentag. Doch viele der Assistentinnen und Assistenten, wie die Mitarbeiter der Europaabgeordneten offiziell heißen, arbeiten heute trotzdem. Das liegt zum einen daran, dass sie einfach viel zu tun haben, zum anderen an der bevorstehenden Plenarwoche in Straßburg, die in der Regel intensiv vorbereitet werden muss. Zur Erklärung: Das Europäische Parlament ist durch die Europäischen Verträge verpflichtet, einmal im Monat seine Plenartagungen in Strassburg abzuhalten, das offizieller Sitz des Parlaments ist. Alle anderen Arbeiten wie z.B. Ausschuss- oder Fraktionssitzungen, finden am Brüsseler Parlamentssitz statt, in Laufweite zu den anderen Institutionen der EU. Jeden Freitag vor einer solchen Woche werden die Akten in Kisten, den so genannten Kantinen, gepackt und abgeholt.
Dennoch ist es ruhiger als sonst, denn es ist erst fünf Uhr nachmittags, an normalen Arbeitstagen komme sie selten vor 20 Uhr aus dem Büro, berichtet sie mir. Nach dem unsere Getränke da sind - ich starte mit einem Kaffee, Estelle hat sich ein Bier verdient - frage ich, wie sie in die Europapolitik gekommen sei. Europa sei ihr in die Wiege gelegt worden: Estelle selbst ist in Kehl als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen, ging aber in Straßburg zur Schule. Sie studierte danach Politikwissenschaften, trat bereits 1998 den französischen Jusos bei und ein Jahr später der PS(Parti Socialiste). Der Europawahlkampf 1999 war folglich das erste große politische Ereignis, an dem sie aktiv teilnahm. Später arbeitete sie in Paris, war im Vorstand der französischen Jusos für den Bereich Europa zuständig und im Vorstand von Ecosy, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Jugendorganisationen Europas.
Wie sie dann nach Brüssel gekommen sei? „Ein jüngerer französischer Europaabgeordneter, den ich aus der Arbeit bei den französischen Jusos ganz gut kenne, rief mich vor 4 Jahren an und sagte, eine Kollegin suche noch eine Assistentin und ob ich mich nicht bewerben wolle.“ Das habe dann auch gleich geklappt und seitdem sei sie in Brüssel. Sie habe eigentlich auch immer im Parlament arbeiten wollen. „Mir gefällt die Arbeit, es ist hektisch, es passiert unheimlich viel auf einmal. Da wäre mir die Arbeit bei der Europäischen Kommission zu langweilig. Aber vor allem bin ich hier direkt am politischen Prozess beteiligt, an den Gesetzesberatungen. Das ist schon sehr spannend.“ Allerdings dauere es eine ganze Weile, bevor man die Abläufe kennt, die nötigen Kontakte geknüpft habe. Nach vier Jahren im Parlament sei sie aber nun an dem Punkt angelangt, sich verändern zu wollen. Auf Dauer könne man sich im Alltag leider nur oberflächlich mit vielen Themen beschäftigen - als Assistentin sei sie ja auch für viele organisatorische Angelegenheiten rund um die Abgeordnete zuständig, auch wenn sie eine Kollegin für diesen Arbeitsbereich habe.
„Das Tagesgeschäft verstellt oft den Blick für die wichtigen Debatten“
Ich bestelle noch mal Getränke, und in Belgien muss man ja eigentlich ein Bier am Abend trinken - jede anständige belgische Kneipe hat mindestens 10 verschiedene Biersorten auf der Karte, eine Bar im Zentrum hat ca. 3000 unterschiedliche Biere vorrätig. Das Bier kommt, und mich interessiert, ob die Arbeit im Parlament ihren Vorstellungen entspricht. „Nun, ich hatte eigentlich erwartet, mehr Kontakt mit Mitarbeitern anderer Delegationen zu haben. Der alltägliche Austausch ist doch oft auf die anderen französischen Assistenten und Assistentinnen der PS beschränkt. Es dauert eine Zeit, bis man zu anderen Delegationen Kontakte knüpft, und die ergeben sich meistens über die direkte Zusammenarbeit in den Ausschüssen“. Auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der anderen französischen Fraktionen habe sie relativ selten zu tun. Das sei insgesamt sehr schade, denn das eigentlich spannende am Europäischen Parlament seien letztlich die internationalen Kontakte, die unterschiedlichen Kulturen, die neu zu entdeckenden Blickwinkel. Aber am Ende eines Arbeitstages habe sie selten Lust, sich abends noch auf Englisch zu unterhalten, dass sei dann auch eine Konzentrationsfrage.
Am Nachbartisch wird es gerade etwas lauter, eine Gruppe italienischer Parlamentsmitarbeiterinnen hat sich eingefunden und hat offensichtlich viel Spaß. „Was reizt Dich denn an der parlamentarischen Arbeit hier besonders?“ frage ich, nachdem es wieder etwas ruhiger geworden ist. Nach kurzer Überlegung antwortet Estelle: „Die Arbeit mit dem Ausschusssekretariat finde ich eigentlich sehr spannend. Meine Chefin ist ja Ausschussvorsitzende, da sind natürlich viele Weichenstellungen zu treffen.“ Ich frage nach: „Deine Abgeordnete ist jetzt Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und Arbeit (EMPL), sie war vorher im Ausschuss für Ausschuss für Wirtschaft und Währung(ECON). Beschäftigung und Soziales sind wichtige Felder für die S&D-Fraktion(Sozialisten/Sozialdemokraten und Demokraten). Macht sich das in Eurer Arbeit bemerkbar?“ Sie sagt, es sei zunächst einmal festzustellen, dass die Fraktion nur selten mit der Partei(gemeint ist die PES: Partei der Europäischen Sozialdemokraten) zusammenarbeite. Auch seien insgesamt strategische Debatten nicht sehr häufig, da der gesetzgeberische Alltag eine zu große Rolle spiele. Da sind dann taktische Erwägungen innerhalb des Hauses wichtiger, gerade im EMPL-Ausschuss haben wir noch relativ wenig harte Gesetzgebung, da fallen strategisch wichtige Debatten schon mal hinten runter.
„In Frankreich kommt die EU noch seltener in den Medien vor als in Deutschland“
Sie habe außerdem den Eindruck, dass die französischen Sozialisten insgesamt unzufrieden mit der Fraktion seien, da diese zu oft den Konsens suche. „Die Fraktion meint oft, das Europäische Parlament als Ganzes gegen den Europäischen Rat und die Kommission stark machen zu müssen. Nach dem Lissabon-Vertrag haben wir ja nun mehr Macht, da kann man die alten Verhaltensmuster endlich ablegen und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien deutlich machen. So haben die französischen Sozialisten nicht verstanden, warum die Barroso-Kommission nicht von der gesamten Fraktion abgelehnt wurde.“ Ihrer Meinung nach müsse man damit aufhören, Europa immer als Idee zu verteidigen, denn die Leuten würden nicht Europa wählen, sondern Parteien. Wenn die nur europapolitische Seminare abhielten und europapolitischen Konsens predigten, gebe es keinen Grund, sich für Europa zu interessieren oder einzusetzen - und schon gar keinen, zur Europawahl zu gehen. Die Bürger in Europa seien doch oft gegen die EU, weil sie als unsozial empfunden werde. Das wäre doch ein Grund mehr, zu sagen, wer denn da diese unsoziale, marktliberale Politik mache und wo die Sozialdemokraten eigentlich hinwollten. Das werde aber oft nicht klar gesagt und nicht strategisch genug angegangen.
Welche Rolle denn europäische Themen in Frankreich spiele, frage ich weiter. „Europa kommt in den französischen Medien noch seltener vor als in den deutschen, und wenn es Thema ist, dann meist negativ besetzt. Errungenschaften oder positive Auswirkungen werden selten dargestellt. Daher müssen die Abgeordneten eigentlich noch viel mehr in Parteien und Wahlkreise wirken, um die Vielfältigkeit, die positiven wie negativen Ergebnisse europäischer Integration auch in der Breite zu kommunizieren. Die Bürger können sich doch gar kein eigenes Bild machen, weil die Medien die Überschriften immer vorgeben: Europa ist unsozial, es ist bürokratisch, etc.“ Seit dem Lissabon-Vertrag gebe es aber immerhin eine bessere Anbindung an die Nationalversammlung, die die strategische Bedeutung des Europäischen Parlamentes langsam erkenne. Ich merke an, dass die deutschen Sozialdemokraten mittlerweile mehr Kontakt nach Berlin haben, seit diese dort in der Opposition seien. Die strategische Bedeutung der Europaabgeordneten wachse in Zeiten nationaler Opposition, das scheine in Frankreich ähnlich zu sein. Estelle nickt.
„Es braucht seine Zeit, um sich in Brüssel wohl zu fühlen.“
„War es denn schwierig für Dich, sich in Brüssel einzuleben?“ Sie zögert. „Zu Beginn schon. Das lag aber auch daran, dass ich in den ersten Monaten relativ häufig in Frankreich war, bei Freunden oder weil ich noch Ehrenämter hatte. Mittlerweile habe ich mich eingelebt, wobei es Zeit braucht, bevor man sich in Brüssel wohl fühlt. Aber eigentlich leben wir ja hauptsächlich im Europaviertel, treffe viele nette Menschen auch unterschiedlicher Nationalität treffen. Die ersten Monate verbringt man ja oft auf dem Place Luxembourg, aber das wird schnell langweilig, wenn man sich hier zurechtgefunden hat. Die Lebensqualität ist außerdem sehr hoch, es gibt viele Parks, und im Gegensatz zu Paris ist das meiste fussläufig zu erreichen. Das ist schon ein großer Vorteil.“ Wirklich frustrierend sei allerdings, dass man weit weg von den Strukturen in Frankreich sei. Wenn man irgendwann zurückwolle, sei dies problematisch, da man ja jahrelang nicht wahrgenommen worden sei. Gerade in der Parteiarbeit mache sich das bemerkbar, auch wenn es eine Sektion der französischen PS in Brüssel gebe. „Die sind halt auch weit weg. Außerdem vermisse ich hier die soziale Mischung, die die Parteiarbeit vor Ort in Frankreich ausgezeichnet hat. In Brüssel sind die Parteimitglieder allesamt im politischen Bereich tätig, haben studiert, etc. Das ist in Frankreich anders, da sitzen auch Arbeitslose oder Arbeiter am Tisch, die nicht zur Universität gegangen sind.“ Diesen Austausch vermisse sie doch sehr. Deshalb sei sie auch bei den PES-Activists aktiv, aber da sei die Lage ähnlich wie bei der PS(zu diesem Programm wird ein anderer Gesprächspartner noch erklären).
Ich frage sie, wie sie die Politik in Belgien wahrnimmt? „Belgien selbst ist ein sehr kompliziertes Land, das anfangs schwer zu verstehen ist. Ich habe ja am Wahlkampfauftakt der PS (Parti Socialiste - wallonische Sozialdemokraten) teilgenommen. Da gab es keinen Gastredner der flämischen Schwesterpartei, und auch sonst scheinen die Parteien sich kaum auszutauschen. Meiner Beobachtung nach orientiert man sich eher nach Frankreich oder im Falle der sp.a (socialisten en progressieven anders - flämische Sozialdemokraten) gen Niederlanden. Aber ich habe mir vorgenommen, mich in diesem Wahlkampf mehr mit der Politik in Belgien zu beschäftigen.“ Wir beenden das Gespräch bei einem weiteren Jupiler - nicht das beste belgische Bier, aber immerhin.
starkerkaffee - 26. Mai, 13:41
Dies ist ein sozialistischer Groschen-Kneipenroman, als solcher angelegt, hoffentlich etwas unterhaltsam, humorvoll, nostalgisch...ein comical relief. Wenn es Spaß macht,gibt es mehr, wenn nich, nich ;-)
Jester‘s Door - Die Kneipe der Narren (1)
Es war ein warmer Sommertag, an dem ich das Jester‘s Door das erste mal betrat. An und für sich eine klassische Eckkneipe, auf die ich in dieser Seitenstraße stieß. Gelegen in einem vierstöckigen Gründerzeitbau, war durch die kaum geputzten Scheiben nur wenig des dunklen Holzmobiliars zu sehen. Ein Schild quietschte im seichten Wind, auf dem eine leicht geöffnete Tür zu sehen war - und eine Narrenkappe, die aus der Öffnung hervorlugte. Neben Guiness wurde auch Flensburger beworben, ich war durstig, und der verbleichte Slogan „Only Socialist pub left between Denmark and Hamburg“ sagte mir zu.
Ich trat ein, staubige Luft und Biergeruch empfangen mich. Eine lange Theke, zwei gelangweilte Typen dahinter. Die Kneipe war deutlich größer, als ich dachte. Hinten gab es eine kleine Bühne, gleich beim Durchgang zu den Toiletten. Über der Bühne hing ein Plakat: „The Worker‘s voice - Only tonight and every night thereafter“. An der Wand rechts davon hingen Wahlaufrufe für Willy Brandt und einige andere lokale Sozis, ein Che-Poster, der Text der Internationalen in drei Sprachen, Fotos von Anti-Atom-Demos sowie ein Aufruf zur Teilnahme am Sozialistischen Redezirkel Nord. Darunter eine langgezogene Bank, zwei ältere Männer saßen dort wie festgewachsen vor einem Schachbrett. Links gab es einen Flipper und in einem Nebenraum einen Billardtisch, an dem einige Punks und Spätrevoluzzer um ein Hannes Wader Autogramm spielten.
Ich ging zum Tresen, bestellte mir ein Bier. Der Typ hinter dem Tresen war zunächst nicht sehr gesprächig, war aber nicht wirklich unfreundlich. „Nettes Kneipenschild habt ihr da“ sagte ich. Der stämmigere antwortete: „Danke. Kommt bestimmt noch, der Jester. Nach Feierabend.“ Aha?! „Trägt der auch so ein Kostüm?“ Die beiden Wirte grinsten sich an. „Nee,“ sagte der Dünne, „der macht sich nur zum Narren. Jeden Abend, pünktlich ab Acht. Wirst schon sehen.“ „ah, ok.“ Nach acht? Es war gerade mal 16 Uhr durch, solange würde ich bestimmt nicht bleiben, dachte ich. Langsam kam ich mit den beiden ins Gespräch, der stämmigere hieß Jens, den dünnen nannten alle nur Timemaster, Timemaster Ten. Schienen irgendwie hängengeblieben zu sein, die beiden. Aber recht nett. Sie wechselten die Musik, nun lief Fischer Z, und die Punks hatten ihren Spaß, waren aber schon total hinüber und hatten natürlich beim Billard verloren.
Ich war mittlerweile beim zweiten Bier und brauchte dringend was zu essen. Ich fragte nach dem nächsten Döner, worauf mich der Timemaster nur anschaute und sagte: „Gegessen wird zu Hause oder hier, wenn Du hier noch ein Bier trinken willst, kloar?!“ „Äh, ja, was gibt es denn?“ winselte ich etwas eingeschüchtert. Jens reichte mir die Karte, raunzte „schon besser“ und ging zu einem größeren Tisch, den er als reserviert kennzeichnete und einige vorgezapfte Biere bereitstellte. Ich bestellte mir eine Salami Flöte, dann kamen auch schon fünf ziemlich verwegene Gestalten herein. „Jo, Bier is klar, vorwärts Jungs!“ Sie setzten sich an den Tisch, der Timemaster stellte die stehengebliebene Wanduhr richtig ein und die beiden Wirte nahmen an der Sitzung des „Sozialistischen Redezirkels Nord“ teil. Jens drehte sich zu mir um, zeigte mit seinem Finger auf mich und rief: „Du! Komm hier rüber. Du hast noch ne Menge zu lernen, min Jung!“ Ich schluckte und ging zum Tisch.
So vergingen die nächsten beiden Stunden mit Marx und Mao rezitierenden Alt-68ern, Godesberg und der Globalisierungskritik, einem Exkurs über die Sozialisierungsmöglichkeiten nach dem Grundgesetz und der Möglichkeit von Notwehr bei Bankerversagen. Mir schwirrte der Kopf, und ich fragte Jens zwischenzeitlich, ob dieser Laden als Kollektiv funktioniere. Er schüttelte mit dem Kopf, und der Timemaster antwortete, nachdem er die Wanduhr auf Verlangen neu gestellt hatte: „Nee, das haben wir früher mal probiert, aber das hat nun goar nich funktioniert, da haben Jens und ich Nägel mit Köppen jemacht.“ Jens nickte: „Jo, dat is so zehn Jahre her. Seitdem halten wir uns wenigstens über Wasser.“ Was denn außer diesem Lesezirkel noch sozialistisch wäre in diesem Laden, fragte ich sie. „Na, die Band“ sagte der Timemaster und lachte. Jens grinste: „Jo, und dann ist die Bezahlung auch sehr solidarisch. Jeder Stammgast hat nen Zettel, die der armen Schlucker werfen wir am Ende des Monats weg, und die die mehr haben, zahlen halt mehr als auf ihrem Zettel steht. Können sie sich eh‘ nich merken!“ Beide lachten laut. „Wir nennen dat „Robin Hood“ Saufen.“ Er zwinkerte mir zu. „Und wenn wir mal nich genug in der Kasse haben, holen wir die Herren und Damen Abgeordneten ran, die müssen dann ausgleichen. Die Sozis können froh sein, wenn die hier noch kleben und tagen dürfen, da müssen sie dann schon Abbitte leisten!“
Die Sitzung ging langsam zu Ende, ich rieb mir verwundert die Augen, es war bereits sieben. Ich bestellte mir noch ein Bier und wartete gespannt auf die Ankunft des Jesters...
starkerkaffee - 26. Mai, 12:54
Eine Geschichte aus dem Alltag
Grau. Warum waren Bahnfahrten immer so grau. Der Himmel: grau. Die Gesichter der Mitreisenden: grau. Temperatur: kaltgrau. Stimmung: müdgrau. Stimme der Schaffnerin: gelangweiltgrau. Die durchfahrenen Bahnhöfe: schimmerndgrau. Noch zwei Stunden dieses grau. Schlafen ist wegen des Raps auf den mp3-Player Kopfhörern meines Nachbarn nicht möglich, also was tun?
Ich überlege kurz, kämpfe mich schließlich aus dem Sitz und mache mich auf den langen Weg zum Bistrowagen. Taumelnd bewege ich mich durch die Wagons, stütze mich auf den Kopflehnen ab, verliere das Gleichgewicht, wenn der Zug mal wieder schwankt wie ein Schiff auf hoher See. Endlich bin ich im Speiseabteil. Fünf genervte Bahnfahrer stehen an der Ausgabe Schlange. Die Abfertigung dauert lange, da die meisten die Frechheit haben, überteuerte Speisen oder Getränke zu bestellen, die leider schon aus sind - und sich daher ganz neu entscheiden müssen. Meistens nehmen die Leute dann irgendetwas und bezahlen einen Wucherpreis für ungewollte Nahrung, statt sich umzudrehen und mit leeren Händen an den Platz zurückzukehren.
Endlich bin ich an der Reihe. Einen Kaffee, schwarz, nein auch keinen Zucker. Die Bahnmitarbeiterin schaut mich etwas skeptisch an. Zur Sicherheit nehme ich mir noch ein Mineralwasser mit. Das ganze ist zusammen fast so teuer wie eine Packung Gourmet-Lachs, aber gut, ich habe ja keine Wahl. Nach heldenhafter Wanderung durch die schwankenden Wagons - ich habe es tatsächlich geschafft, den Kaffee nicht über eine Frau in Tigermuster-Aufmachung zu giessen - erreiche ich schließlich wieder meinen Platz. Ich richte mir alles so ein, dass ich gemütlich lesen und meinen Kaffee geniessen kann. Bis zum ersten Schluck. Mein Mund zieht sich zusammen, ich schaue ungläubig auf den Pappbecher, öffne den Deckel. Vorsichtig rieche ich an dem Gesöff, dass lediglich eine leicht bräunliche, dunkle Farbe mit dem gemein hat, was ich Kaffee nenne. Ich probiere einen zweiten Schluck, komme zum gleichen Ergebnis, stehe auf und entsorge den Kaffee in der Toilette.
Eine kleine Flasche Wasser später, fünf Seiten weiter und noch genervter komme ich am Zielbahnhof an. Wobei das nicht stimmt, der Bahnhof ist nicht mein Ziel, sondern das Gespräch zwei Stunden später. Ich fühle mich müde, abgespannt, will jetzt endlich etwas Ruhe und gehe daher zum nächsten Kaffeeladen. Ich schaue auf die Auslage, entscheide mich für einen Kuchen. Relativ zügig darf ich auch bestellen. Ich zeige auf den Kuchen, den ich bestelle, und natürlich möchte ich einen Kaffee dazu. Schwarz. Ohne Zucker. Diesmal ein leicht gelangweilter Blick von der Kassiererin. Welcher "Blend" es denn sein solle? Ich sage, ich möchte einfach nur guten Kaffee. Die seien alle gut, ich müßte mich halt entscheiden, aber der Caramel-Macchiato, die Vanilla-Latte oder der White-Mocca seien eher zu empfehlen. Mir schwant wieder das Böse, ich nehme den am wenigsten "teuren Houseblend". Der ist aus. Also "Columbian Dream". Die Frau schaut mich skeptisch an, der hätte eine ziemlich eigene Note, man sollte ihn besser nicht schwarz trinken. Ich antworte, Kaffee, der schwarz und ohne Zucker nicht schmeckt, ist kein Kaffee. Ich bestelle den kleinsten möglichen Becher.
In der Tat, kein wirklich guter Kaffee, aber um Längen besser als dieser Pseudokaffee aus dem Zug. Wahrscheinlich war der Kaffee sogar ganz gut, aber die Kaffeemaschinen, die diese Franchise-Kaffeeläden nutzen, mögen ja für Espresso oder Cappuccino geeignet sein, für richtigen, frisch gemahlenen Filterkaffee reicht es halt nicht. Das galt auch für die Bahn, denn diese Automaten da waren ebenfalls total ungeeignet. Den besten Kaffee in einem Zug hatte er mal bei einem Menschen erhalten, der finanziert durch die Arbeitsagentur als Frühstücksangebot frischen Kaffee und Brötchen im Zug verkaufte. Der hatte richtigen Kaffee dabei gehabt. Traurig. Früher gingen Läden pleite, wenn sie keinen vernünftigen Kaffee servierten. Heute ist es umgekehrt: Der Kaffee kann noch so gut sein, wenn man seinen Milchkaffee nicht "Café Latte" nennt oder irgendwelche künstlichen Geschmacksaromen zufügt, kann man gleich dichtmachen.
Ich trinke nun also diesen nicht ganz so schlecht schmeckenden "Columbian Dream" und versuche, mich auf meinen Termin vorzubereiten. Leider kaum möglich, da diese Kaffeemaschine beim Milchaufschäumen einen derartigen Krach macht, dass man meinen könnte, sie fliege mir gleich um die Ohren. Ich trinke dann also die Hälfte dieses Kaffees, gehe in mein Hotel und checke ein. Auf dem Zimmer angekommen bestelle ich mir einen Kaffee und eine Pizza, der Kuchen im Café war so trocken gewesen, dass ich nur zwei Bissen runterbekommen habe. 20 Minuten später klopft der Zimmerservice. Diesmal kann ich es schon gleich riechen: Richtiger Kaffee! und die Pizza ist auch nicht übel. Auf die Rechnung schaue ich erst später. Der Kaffee ist günstiger als in der Bahn. Ich bestelle noch einen, hole mein Buch raus, und geniesse die Stunde, die mir noch bleibt. Lesend und meinen Kaffee geniessend. Schwarz. Ohne Zucker. Einfach nur Kaffee.
starkerkaffee - 26. Mai, 11:47
Die Europäische Union bleibt oft ein Buch mit sieben Siegeln, und Brüssel wird häufig als Synonym für Bürgerferne und Lobbyismus benutzt. Ich möchte mit diesem Blog eine Reihe starten, in der ich Menschen vorstelle, die rund um die EU arbeiten. Was passiert in Brüssel? Wer arbeitet da? Wieso erfahren wir so wenig aus Europa? Wie sind die Abläufe? Wie viel Einfluss haben die Lobbyisten wirklich? Und was macht Brüssel eigentlich aus?
Diese und weitere Aspekte möchte ich mit unterschiedlichen Gesprächspartnerinnen und -partnern erläutern. Dabei geht es mir darum, dem anonymen EU-Betrieb menschlich fassbare Konturen zu verleihen. Wer dazu Anregungen hat oder bestimmte Fragen erörtert haben möchte, kann mir gern schreiben.
Meine erste Interviewpartnerin: Teresa, 33, Journalistin aus Schweden
Ich habe mich mit Teresa im Stoemelings verabredet, einer kleinen, typisch belgischen Kneipe am Place de Londres. Fünf Minuten entfernt vom Europäischen Parlament und am Rande des afrikanisch geprägten Viertels Matonge gelegen, trifft sich hier ein gemischtes Publikum aus Belgiern, EU-Menschen und anderen Zugewanderten. Ich setze mich an einen einfachen Holztisch, bestelle einen Lait Russe - die belgische Variante des Milchkaffees. Pam, die Kneipenbesitzerin, diskutiert am Nebentisch die Zubereitung tibetanischer Speisen mit zwei Asiatinnen, während ihr einziger Mitarbeiter mir den Kaffee zubereitet. Pams Familie stammt aus Tibet, sie selbst ist in Belgien aufgewachsen. Auch ihr Mitarbeiter kommt aus einer asiatischen Einwandererfamilie. Ich rede hier immer Französisch - man kommt sich doch etwas komisch vor, wenn auch mit Belgiern immer englisch oder deutsch gesprochen wird.
Das Wetter ist grau, und durch die dunkle Holzverkleidung ist es in der Kneipe noch dunkler, nur die Spiegel an der Rückwand reflektieren das Licht. Teresa kommt pünktlich, wirkt aber gestresst. „Seit dem Beginn der Griechenlandkrise hat mich unsere Finanz- und Wirtschaftsredaktion für sich gebucht“ erklärt sie leicht außer Atem. Sie arbeitet seit Januar für eine der beiden großen schwedischen Tageszeitungen als Korrespondentin, war vorher als eine der typischen Bauchladenjournalistinnen für verschiedene Publikationen in Brüssel als freelancer tätig. Insgesamt ist sie bereits seit fünf Jahren in Brüssel. Ich lasse sie etwas zur Ruhe kommen, bevor ich ihr meine Fragen stelle. Sie bestellt sich einen Rotwein, legt das Handy auf den Tisch. Die Familie wolle noch aus Schweden anrufen. Für mich ist das natürlich kein Problem.
Ich erkläre ihr, was ich genau vorhabe und auf welcher Plattform ich den Blog schreibe. Sie tippt etwas ins Handy, bevor wir anfangen. Ob es schon immer ihr Wunsch gewesen sei, in Brüssel zu arbeiten? „Ich bin eine typische Europäerin“ antwortet sie. „Meine Mutter ist Spanierin, mein Vater halb deutsch, halb dänisch - und ich bin in Schweden aufgewachsen. Ich ging später in Frankreich zur Schule, war dann in Spanien. Ich wußte daher schon früh, dass ich meine Sprachkenntnisse nutzen wollte. Als ich dann vor der Wahl stand, habe ich mich gegen ein Studium als Übersetzerin entschieden und für den Journalismus.“ Ihr sei es wichtig gewesen, selbst etwas aussagen zu können, und nicht nur Meinungen anderer wiederzugeben. Den Schwerpunkt EU-Journalismus habe sie dann gewählt, weil Europa schon damals als wenig attraktiv galt unter Journalisten. Dies schien ihr die richtige Nische zu sein, um trotz des Konkurrenzdrucks in der Medienwelt einen interessanten Job bekommen zu können. So sei sie dann auch für ein Praktikum nach Brüssel gekommen und ist gleich geblieben.
„Die EU sehe ich sehr pragmatisch.“
„Was bedeutet die Europäische Union dann für Dich?“ stelle ich die nächste Frage. Europa sehe sie eher pragmatisch, antwortet sie. Da Schweden ja sehr spät der EU beigetreten sei, hätte auch sie nicht diese emotionale Verbundenheit wie viele Deutsche oder Franzosen. „Das Friedensprojekt Europa hat sicherlich große historische Bedeutung, aber die Menschen halten Frieden mittlerweile für etwas Selbstverständliches. Die Zeit schreitet voran, und die Menschen müssen vom Sinn der Europäischen Union mit anderen Argumenten überzeugt werden. Ganz pragmatisch, auch kritisch. Mit sentimentalem Pathos kommen wir nicht weiter.“ Sie stelle Leuten immer die praktischen Vorteile der Europäischen Union dar, beim Umweltschutz, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität oder bei Krankheitsepidemien. Dies seien alles Probleme, die nationale Grenzen ignorierten. Da sei die europäische Harmonisierung in vielen Fällen sehr hilfreich. Aber man dürfe auch die Probleme nicht verleugnen. So sei heute niemandem mehr zu vermitteln, warum das Europäische Parlament einmal im Monat in Strassburg tagen müsse.
Welche Themen sie denn schwerpunktmäßig bearbeite? „Nun, als Korrespondentin muss ich alle politischen Bereiche abdecken, im Moment ist es halt sehr viel Finanz- und Wirtschaftspolitik. Vorher habe ich mich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Rechtspolitik sowie der Außen- und Verteidigungspolitik beschäftigt. Aber grundsätzlich versuche ich den Leuten bei allem zu erklären, warum Entscheidungen auf europäische Ebene getroffen werden und welche technischen wie rechtlichen Probleme es bei deren Umsetzung gibt.“ So benötige das eine Land die Zustimmung des Parlaments, ein anderes müsse in einigen Fällen ein Referendum abhalten - und Deutschland habe ständig Probleme mit dem Verfassungsgericht, das es in Schweden z.B. nicht gebe. Ein Europäischer Konsens brauche daher Zeit, er müsse zwischen den Europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten ausgehandelt werden. Das müsse erstmal dargelegt werden.
„Es ist ein ständiger Kampf, Europäische Themen in die Zeitung zu bekommen.“
An dieser Stelle des Gesprächs meldet sich ihr Telefon. Während sie das Gespräch führt, bestelle ich mir einen weiteren Kaffee und schaue mich um. Das Publikum hat gewechselt, es sitzen einige spanische Abgeordnetenmitarbeiter am Fenster, am Tisch daneben feiern einige junge Belgier. Die beiden Frauen neben uns geniessen mittlerweile so etwas wie tibetanische Ravioli. Schließlich beendet Teresa das Telefonat lächelnd, aber etwas erregt: „Das war meine Redaktion. Sie wollen, dass ich am Sonntag die Titelstory schreibe. Der Sondergipfel zur Griechenlandkrise.“
Ich schließe meine Frage an, wie denn generell die EU in Schweden wahrgenommen werde? „Kaum. Sonst ist es sehr schwierig, überhaupt Artikel über Brüsseler Politik in die Zeitungen zu bekommen. Ehrlich gesagt bin ich eigentlich etwas frustriert darüber, immer dafür kämpfen zu müssen, dass meine Artikel gedruckt werden.“ Schweden hätte der Beitritt zur Europäischen Union nun mal nicht besonders verändert, daher sei das Interesse gering. Folglich gebe es in Brüssel auch mehr maltesische Journalisten als schwedische. Was dazu führe, dass sie als einzige Korrespondentin der großen schwedischen Tageszeitungen für die schwedischen Politiker auf europäischer Ebene von enormer Bedeutung sei - als freelancer sei sie nicht so beachtet worden.
Ohnehin nutze die schwedische Politik die EU vorwiegend als Ausrede. „Wenn sie etwas unpopuläres durchsetzen, dann liegt es an Europa - und wenn sie eine andere Entscheidung nicht treffen wollen, dann geht es nicht, weil Europäische Gesetze es verbieten. Dabei will ich doch von der schwedischen Politik, dass sie schwedische Interessen in Brüssel vertritt und annehmbare Kompromisse aushandelt.“ Mittlerweile hätte sich allerdings gezeigt, dass auch kleinere Länder ihre Interessen durchsetzen könnten, wenn sie eine Vermittlerrolle einnehmen. Einem schwedischen Vorschlag könne mitunter eher zugestimmt werden als einem deutschen, französischen oder englischen, selbst wenn er inhaltsgleich sei.
„Ich liebe Brüssel!“
Ich frage sie, ob ihr Brüssel eigentlich gefällt. „Ich liebe es!“ antwortet sie enthusiastisch. „Brüssel ist voll Leben, Musik, Kunst, Kultur, es ist ständig etwas los. Eigentlich lebe ich ja im Euroland, habe täglich mindestens 30 unterschiedliche Nationalitäten um mich. Und Brüssel ist ja ohnehin multikulturell geprägt, Flamen und Wallonen organisieren viele Festivals. Außerdem sind die Opernhäuser toll, und ich liebe Oper.“ Belgien habe zwar einen chaotischen Ruf, aber eigentlich sei es sehr liebenswert. Letztlich hätten die Belgier die Fähigkeit, in den aussichtslosesten Situationen noch irgendwie einen Kompromiss zu finden. Einzig der Wohnstandard würde sie ab und an stören, das sei mit Deutschland oder den skandinavischen Ländern wirklich nicht zu vergleichen.
Ich lächle, jeder Expat kennt die Probleme mit Warmwasserboilern, Heizungen und undichten Fenstern. Wir lassen das Gespräch bei einem Glas Rotwein ausklingen und machen uns anschließend auf den Weg zum Place Lux - eigentlich Place Luxembourg, einer stark frequentierten Ansammlung von Bars direkt vor dem Europäischen Parlament. Teresa will noch eine dänische Freundin treffen, für mich liegt es auf dem Heimweg. Die Freundin arbeite als freelancer, wie sie selbst zuvor. Als wir ihr vor einer weniger überlaufenen Kneipe des Platzes begegnen, führen wir die Unterhaltung kurz auf dänisch fort und Teresa berichtet vom Interview. Die Kollegin erzählt, dass sie demnächst auch Beiträge für ein Radioprogramm produzieren soll und dafür noch witzige Anekdoten suche. Ich schlage die berühmten Haikus des belgischen EU-Ratspräsidenten van Rompuy vor, als sich Teresas Handy mit einer SMS meldet. Ein Freund hat ihr geschrieben, die Freitag Community sei absolut lesenswert und sie hätte mit dem Interview nichts falsch gemacht. Ich rate ihr, den Blogbeitrag abzuwarten, verabschiede mich und unterquere das Europäische Parlament - die Arbeit wartet.
starkerkaffee - 26. Mai, 11:01