26
Mai
2010

EU-Blog(2): Mehr Kontroversen, bitte!

Bitte Vorspann zum ersten EU-Blog beachten.

Das zweite Interview: Estelle, 29, Mitarbeiterin einer französischen Europaabgeordneten

Ich treffe Estelle im Charles Quint, einer relativ neuen Kneipe/Brasserie an der Ecke vom Place Luxembourg, direkt neben dem Europäischen Parlament. Es ist der Freitag nach Himmelfahrt, für viele eigentlich ein Brückentag. Doch viele der Assistentinnen und Assistenten, wie die Mitarbeiter der Europaabgeordneten offiziell heißen, arbeiten heute trotzdem. Das liegt zum einen daran, dass sie einfach viel zu tun haben, zum anderen an der bevorstehenden Plenarwoche in Straßburg, die in der Regel intensiv vorbereitet werden muss. Zur Erklärung: Das Europäische Parlament ist durch die Europäischen Verträge verpflichtet, einmal im Monat seine Plenartagungen in Strassburg abzuhalten, das offizieller Sitz des Parlaments ist. Alle anderen Arbeiten wie z.B. Ausschuss- oder Fraktionssitzungen, finden am Brüsseler Parlamentssitz statt, in Laufweite zu den anderen Institutionen der EU. Jeden Freitag vor einer solchen Woche werden die Akten in Kisten, den so genannten Kantinen, gepackt und abgeholt.

Dennoch ist es ruhiger als sonst, denn es ist erst fünf Uhr nachmittags, an normalen Arbeitstagen komme sie selten vor 20 Uhr aus dem Büro, berichtet sie mir. Nach dem unsere Getränke da sind - ich starte mit einem Kaffee, Estelle hat sich ein Bier verdient - frage ich, wie sie in die Europapolitik gekommen sei. Europa sei ihr in die Wiege gelegt worden: Estelle selbst ist in Kehl als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen, ging aber in Straßburg zur Schule. Sie studierte danach Politikwissenschaften, trat bereits 1998 den französischen Jusos bei und ein Jahr später der PS(Parti Socialiste). Der Europawahlkampf 1999 war folglich das erste große politische Ereignis, an dem sie aktiv teilnahm. Später arbeitete sie in Paris, war im Vorstand der französischen Jusos für den Bereich Europa zuständig und im Vorstand von Ecosy, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Jugendorganisationen Europas.

Wie sie dann nach Brüssel gekommen sei? „Ein jüngerer französischer Europaabgeordneter, den ich aus der Arbeit bei den französischen Jusos ganz gut kenne, rief mich vor 4 Jahren an und sagte, eine Kollegin suche noch eine Assistentin und ob ich mich nicht bewerben wolle.“ Das habe dann auch gleich geklappt und seitdem sei sie in Brüssel. Sie habe eigentlich auch immer im Parlament arbeiten wollen. „Mir gefällt die Arbeit, es ist hektisch, es passiert unheimlich viel auf einmal. Da wäre mir die Arbeit bei der Europäischen Kommission zu langweilig. Aber vor allem bin ich hier direkt am politischen Prozess beteiligt, an den Gesetzesberatungen. Das ist schon sehr spannend.“ Allerdings dauere es eine ganze Weile, bevor man die Abläufe kennt, die nötigen Kontakte geknüpft habe. Nach vier Jahren im Parlament sei sie aber nun an dem Punkt angelangt, sich verändern zu wollen. Auf Dauer könne man sich im Alltag leider nur oberflächlich mit vielen Themen beschäftigen - als Assistentin sei sie ja auch für viele organisatorische Angelegenheiten rund um die Abgeordnete zuständig, auch wenn sie eine Kollegin für diesen Arbeitsbereich habe.

„Das Tagesgeschäft verstellt oft den Blick für die wichtigen Debatten“

Ich bestelle noch mal Getränke, und in Belgien muss man ja eigentlich ein Bier am Abend trinken - jede anständige belgische Kneipe hat mindestens 10 verschiedene Biersorten auf der Karte, eine Bar im Zentrum hat ca. 3000 unterschiedliche Biere vorrätig. Das Bier kommt, und mich interessiert, ob die Arbeit im Parlament ihren Vorstellungen entspricht. „Nun, ich hatte eigentlich erwartet, mehr Kontakt mit Mitarbeitern anderer Delegationen zu haben. Der alltägliche Austausch ist doch oft auf die anderen französischen Assistenten und Assistentinnen der PS beschränkt. Es dauert eine Zeit, bis man zu anderen Delegationen Kontakte knüpft, und die ergeben sich meistens über die direkte Zusammenarbeit in den Ausschüssen“. Auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der anderen französischen Fraktionen habe sie relativ selten zu tun. Das sei insgesamt sehr schade, denn das eigentlich spannende am Europäischen Parlament seien letztlich die internationalen Kontakte, die unterschiedlichen Kulturen, die neu zu entdeckenden Blickwinkel. Aber am Ende eines Arbeitstages habe sie selten Lust, sich abends noch auf Englisch zu unterhalten, dass sei dann auch eine Konzentrationsfrage.

Am Nachbartisch wird es gerade etwas lauter, eine Gruppe italienischer Parlamentsmitarbeiterinnen hat sich eingefunden und hat offensichtlich viel Spaß. „Was reizt Dich denn an der parlamentarischen Arbeit hier besonders?“ frage ich, nachdem es wieder etwas ruhiger geworden ist. Nach kurzer Überlegung antwortet Estelle: „Die Arbeit mit dem Ausschusssekretariat finde ich eigentlich sehr spannend. Meine Chefin ist ja Ausschussvorsitzende, da sind natürlich viele Weichenstellungen zu treffen.“ Ich frage nach: „Deine Abgeordnete ist jetzt Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und Arbeit (EMPL), sie war vorher im Ausschuss für Ausschuss für Wirtschaft und Währung(ECON). Beschäftigung und Soziales sind wichtige Felder für die S&D-Fraktion(Sozialisten/Sozialdemokraten und Demokraten). Macht sich das in Eurer Arbeit bemerkbar?“ Sie sagt, es sei zunächst einmal festzustellen, dass die Fraktion nur selten mit der Partei(gemeint ist die PES: Partei der Europäischen Sozialdemokraten) zusammenarbeite. Auch seien insgesamt strategische Debatten nicht sehr häufig, da der gesetzgeberische Alltag eine zu große Rolle spiele. Da sind dann taktische Erwägungen innerhalb des Hauses wichtiger, gerade im EMPL-Ausschuss haben wir noch relativ wenig harte Gesetzgebung, da fallen strategisch wichtige Debatten schon mal hinten runter.

„In Frankreich kommt die EU noch seltener in den Medien vor als in Deutschland“

Sie habe außerdem den Eindruck, dass die französischen Sozialisten insgesamt unzufrieden mit der Fraktion seien, da diese zu oft den Konsens suche. „Die Fraktion meint oft, das Europäische Parlament als Ganzes gegen den Europäischen Rat und die Kommission stark machen zu müssen. Nach dem Lissabon-Vertrag haben wir ja nun mehr Macht, da kann man die alten Verhaltensmuster endlich ablegen und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien deutlich machen. So haben die französischen Sozialisten nicht verstanden, warum die Barroso-Kommission nicht von der gesamten Fraktion abgelehnt wurde.“ Ihrer Meinung nach müsse man damit aufhören, Europa immer als Idee zu verteidigen, denn die Leuten würden nicht Europa wählen, sondern Parteien. Wenn die nur europapolitische Seminare abhielten und europapolitischen Konsens predigten, gebe es keinen Grund, sich für Europa zu interessieren oder einzusetzen - und schon gar keinen, zur Europawahl zu gehen. Die Bürger in Europa seien doch oft gegen die EU, weil sie als unsozial empfunden werde. Das wäre doch ein Grund mehr, zu sagen, wer denn da diese unsoziale, marktliberale Politik mache und wo die Sozialdemokraten eigentlich hinwollten. Das werde aber oft nicht klar gesagt und nicht strategisch genug angegangen.

Welche Rolle denn europäische Themen in Frankreich spiele, frage ich weiter. „Europa kommt in den französischen Medien noch seltener vor als in den deutschen, und wenn es Thema ist, dann meist negativ besetzt. Errungenschaften oder positive Auswirkungen werden selten dargestellt. Daher müssen die Abgeordneten eigentlich noch viel mehr in Parteien und Wahlkreise wirken, um die Vielfältigkeit, die positiven wie negativen Ergebnisse europäischer Integration auch in der Breite zu kommunizieren. Die Bürger können sich doch gar kein eigenes Bild machen, weil die Medien die Überschriften immer vorgeben: Europa ist unsozial, es ist bürokratisch, etc.“ Seit dem Lissabon-Vertrag gebe es aber immerhin eine bessere Anbindung an die Nationalversammlung, die die strategische Bedeutung des Europäischen Parlamentes langsam erkenne. Ich merke an, dass die deutschen Sozialdemokraten mittlerweile mehr Kontakt nach Berlin haben, seit diese dort in der Opposition seien. Die strategische Bedeutung der Europaabgeordneten wachse in Zeiten nationaler Opposition, das scheine in Frankreich ähnlich zu sein. Estelle nickt.

„Es braucht seine Zeit, um sich in Brüssel wohl zu fühlen.“

„War es denn schwierig für Dich, sich in Brüssel einzuleben?“ Sie zögert. „Zu Beginn schon. Das lag aber auch daran, dass ich in den ersten Monaten relativ häufig in Frankreich war, bei Freunden oder weil ich noch Ehrenämter hatte. Mittlerweile habe ich mich eingelebt, wobei es Zeit braucht, bevor man sich in Brüssel wohl fühlt. Aber eigentlich leben wir ja hauptsächlich im Europaviertel, treffe viele nette Menschen auch unterschiedlicher Nationalität treffen. Die ersten Monate verbringt man ja oft auf dem Place Luxembourg, aber das wird schnell langweilig, wenn man sich hier zurechtgefunden hat. Die Lebensqualität ist außerdem sehr hoch, es gibt viele Parks, und im Gegensatz zu Paris ist das meiste fussläufig zu erreichen. Das ist schon ein großer Vorteil.“ Wirklich frustrierend sei allerdings, dass man weit weg von den Strukturen in Frankreich sei. Wenn man irgendwann zurückwolle, sei dies problematisch, da man ja jahrelang nicht wahrgenommen worden sei. Gerade in der Parteiarbeit mache sich das bemerkbar, auch wenn es eine Sektion der französischen PS in Brüssel gebe. „Die sind halt auch weit weg. Außerdem vermisse ich hier die soziale Mischung, die die Parteiarbeit vor Ort in Frankreich ausgezeichnet hat. In Brüssel sind die Parteimitglieder allesamt im politischen Bereich tätig, haben studiert, etc. Das ist in Frankreich anders, da sitzen auch Arbeitslose oder Arbeiter am Tisch, die nicht zur Universität gegangen sind.“ Diesen Austausch vermisse sie doch sehr. Deshalb sei sie auch bei den PES-Activists aktiv, aber da sei die Lage ähnlich wie bei der PS(zu diesem Programm wird ein anderer Gesprächspartner noch erklären).

Ich frage sie, wie sie die Politik in Belgien wahrnimmt? „Belgien selbst ist ein sehr kompliziertes Land, das anfangs schwer zu verstehen ist. Ich habe ja am Wahlkampfauftakt der PS (Parti Socialiste - wallonische Sozialdemokraten) teilgenommen. Da gab es keinen Gastredner der flämischen Schwesterpartei, und auch sonst scheinen die Parteien sich kaum auszutauschen. Meiner Beobachtung nach orientiert man sich eher nach Frankreich oder im Falle der sp.a (socialisten en progressieven anders - flämische Sozialdemokraten) gen Niederlanden. Aber ich habe mir vorgenommen, mich in diesem Wahlkampf mehr mit der Politik in Belgien zu beschäftigen.“ Wir beenden das Gespräch bei einem weiteren Jupiler - nicht das beste belgische Bier, aber immerhin.
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