14
Jul
2010

EU-Blog (4): Back to basics

Mein Gesprächspartner: Nils, 34, Referent bei einer europäischen Partei

Ich sitze im Karsmakers(www.karsmakers.be), einem Coffeehouse gegenüber des Gare de Luxembourg. Der Laden hat die Atmosphäre eines Wohnzimmers, es ist hell, man kann es sich in Sesseln gemütlich machen, an längeren Holztischen auch mit mehreren Leuten arbeiten oder draussen auf der Terrasse die hoffentlich vorhandene Sonne geniessen. Eine kleine Bibliothek bietet Lesestoff vom National Geographic über Kaffeebände bis hin zu einer Che Guevara Biographie. Die meisten hier nutzen aber dann doch lieber den Wifi-Zugang und suchen etwas Ruhe zum arbeiten, wenn sie sich nicht gerade entspannt unterhalten.

Während ich noch mal bei einem Tee meine Fragen durchgehe, klingelt das Handy. Nils entschuldigt sich, es wird 10 Minuten später. Er habe beim Rausgehen seinen Chef getroffen, und das habe zu weiteren Arbeitsaufträgen geführt. Ich lasse mir also etwas Zeit und beobachte die anderen Gäste. Neben den üblichen Lobbyisten sitzen auch einige Studenten hier und arbeiten an Referaten oder Seminararbeiten. Der Eigentümer nimmt auch des öfteren seine Kinder mit, daher fühlt man sich hier auch wohl, wenn man keinen Anzug trägt. Das ist nicht unbedingt in jedem Café der Umgebung der Fall.

„Die Europäische Politik hat auf mich immer eine ungeheure Faszination ausgeübt“

Schließlich hat es Nils geschafft, und nachdem wir uns neue Getränke besorgt haben, beginnen wir das Gespräch.

Als Jugendlicher habe er eine Weile gebraucht, bevor er sich für eine feste politische Heimat entschieden habe. Demokratie bringe verschiedene gesellschaftliche Perspektiven zusammen und erst am Ende der Schulzeit habe er die innere Überzeugung gewonnen, für welche Perspektive er eintreten wollte. Dies sei die Sozialdemokratie gewesen. „Aber von der Europäischen Union war ich schon immer fasziniert vor allem wegen der Ratssitzungen. Die haben schon während meiner Schulzeit eine ungeheure Faszination ausgeübt, wegen dieser einmaligen Mischung zwischen politischer Ebene und diplomatischem Umgang.“

Nils trat 1998 in die SPD ein. Kurz darauf wurde er in der Bürgersprechstunde seines Stadtrats gefragt, was er denn in der Zukunft machen wolle. Da habe er geantwortet, er wolle einmal in Brüssel arbeiten und sozialdemokratische Politik vertreten. „Das wurde mit der amüsierten Bemerkung abgetan hier sei endlich unser Mann für Europa. In diesem Satz schwangen wohl zwei Botschaften mit: Zum einen, dass ich schon ziemlich abgehoben sei, wo ich doch gerade erst in die Partei eingetreten war. Und zum anderen die Überraschung darüber, dass sich überhaupt jemand für Europa interessiert.“

Dieses Interesse an Europa habe er tatsächlich schon früh entwickelt. „Ich habe zum Beispiel einen binationalen Studiengang belegt und die Hälfte meines Studiums in Italien verbracht. Zum Studienende habe ich dann ein Erasmus-Semester in Brüssel gemacht und hatte schon die Hoffnung, hier dann auch eine Arbeitsstelle zu bekommen. Und am Ende bin ich geblieben.“ Einem Praktikum bei einer Europaabgeordneten sei ein weiteres Praktikum bei der SPE (Sozialdemokratische Partei Europas oder im Englischen PES: Party of European Socialists) gefolgt, wo er dann eine feste Stelle bekommen habe.


„Die Politik der EU wird durch die konservativ-liberale Mehrheit im Rat bestimmt!“

„Was ist denn die eigentliche Aufgabe der SPE? “ frage ich nach. Er antwortet nach kurzem Nachdenken: „Letztlich werden die wichtigen Entscheidungen heutzutage auf globaler oder wenigstens europäischer Ebene getroffen. Wenn man als Sozialdemokrat etwas gestalten will, anstatt nur Abwehrkämpfe auf nationalstaatlicher Ebene zu führen, dann geht das nur über eine starke europäische Parteiorganisation. Ich betrachte die SPE als das Projekt der Zukunft, wenn es um sozialen Fortschritt, soziale Gerechtigkeit geht.“ Der letzte SPE-Parteitag habe die Weichen gestellt für ein gemeinsames Grundsatzprogramm, was bei 33 Mitgliedsparteien aus den 27 Mitgliedstaaten ein großer Schritt nach vorne wäre.

„Konkret machen wir Gegenvorschläge zu den konservativ-liberalen Initiativen der EU-Kommission. Das geht natürlich nur in wenigen Bereichen, aber unser Ziel muss es sein, den Menschen und den Medien begreiflich zu machen, dass europäische Politik auch anders aussehen kann, dass es die nationalen Regierungen sind, die diese Politik in Rat und Kommission durchsetzen und die konservativ-liberale Mehrheit im Europäischen Parlament, die eine wirkliche europäische Sozialpolitik unmöglich macht.“ Das sei ein langwieriger Prozess, aber man müsse damit anfangen, die politische Debatte aus dem EU-Viertel in die Öffentlichkeit zu tragen. Ansonsten werde es nie eine wirklich demokratische europäische Politik geben, trotz Parlament und Wahlen.

Ich unterbreche ihn kurz und frage, ob das denn kein mehr oder weniger aussichtsloses Unterfangen sei. „Das werden wir sehen. Ernsthaft hat es ja noch keine Partei versucht, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Unsere Bemühungen sind bis jetzt eigentlich recht erfolgreich mit unserer Medienarbeit, wenn man die Vorraussetzungen betrachtet, aber es reicht bei weitem noch nicht aus. Wir müssen weiter die Konfrontation mit dem politischen Gegner suchen, dann werden wir als europäische Ebene auch von den Medien stärker wahrgenommen.“ Ich frage Nils, warum dann in Deutschland nicht öfters etwas über die SPE zu lesen sei. Er antwortet mir, dass die SPD mit Martin Schulz als Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament über einen herrausragenden Vertreter der europäischen Sozialdemokratie verfüge und es daher nur verständlich sei, wenn sich die deutschen Medien bei ihrer Arbeit auf den SPD-Vertreter und S&D-Fraktionsvorsitzenden konzentrieren.

„Andererseits ist es auch Teil unserer europäischen Parteiarbeit, konkret Einfluss zu nehmen auf den Entscheidungsprozess. Zum Beispiel über die sozialdemokratischen Kommissare beziehungsweise über den Austausch mit den sozialdemokratischen Ministern und Regierungschefs vor den Ratssitzungen. Außerdem gibt es auch zwischen der Fraktion im Europäischen Parlament und der Partei eine Arbeitsaufteilung. Während die Fraktion ihr Augenmerk darauf richtet, bei der parlamentarischen Arbeit möglichst viele sozialdemokratischen Positionen in den Beschlüssen zu verankern und daher eine Kooperation mit anderen Parteien notwendig ist, kann die europäische Partei plakativer agieren und so die politischen Unterschiede in den Positionen klar erkennbar machen. Für die Zukunft würde Nils sich wünschen, wenn die Partei der Fraktion im Europaparlament einen formalen Auftrag zu Koalitionen und politischen Kooperationen geben würde, wie dies auf nationaler Ebene geschehe. So könnte für die Bürger die eigene politische Arbeit klarer erkennbar gemacht werden. Durch die historisch gewachsene Rolle des Europäischen Parlaments neigen die Fraktionen zur informellen, technischen Zusammenarbeit. Da sei es dann für die SPE mitunter schwer zu vermitteln, warum manche Entscheidungen gegen die Sozialdemokraten getroffen wurden.

„Eine Europäische Öffentlichkeit kann man nur von beiden Seiten entwickeln: Die Basis und Brüssel dürfen kein Gegensatz sein.“

„Das Problem ist, dass wir europäische Debatten auch in die Mitgliedsparteien tragen müssen. Dabei muss die Zusammenarbeit und Koordinierung mit den Mitgliedsparteien gestärkt werden. Diese Forderung kommt gerade auch von den Mitgliedsparteien, die regelmäßig in ihren Programmen schreiben: Die SPE muss stärker werden. Aber eine einfache Aufgabe ist das nicht, denn es handelt sich vielfach um ein Mentalitätsproblem: Die Erfolge von Sozialdemokraten und Gewerkschaften wurden im Rahmen der Nationalstaaten errungen. Aller internationalistischer Rhetorik zum Trotz fällt es nun schwer, die EU als Chance zu sehen und sich nicht auf Abschottung und Konkurrenzdenken zurückzuziehen.“ Deshalb sei die SPE auch dabei, den direkten Kontakt zu den europäisch interessierten Parteimitgliedern an der Basis zu stärken.

Ich bin etwas skeptisch: „Wie soll das gelingen?“. Nils lächelt. Er sei für das Projekt der so genannten SPE-Aktivisten zuständig. Man organisiere durch dieses Projekt europaweit Parteimitglieder in Gruppen, die sich für die EU und europäische Themen interessierten. „So wollen wir einerseits einen Mentalitätswandel vor Ort einleiten, als auch den direkten Kontakt zur Basis bekommen. Es ist ja richtig: Die europäische Ebene muss raus aus dem Elfenbeinturm, und das muss man organisieren. Wir haben jetzt 110 Aktivistengruppen, der Austausch ist äußerst wertvoll, weil so auch die Basis der Mitgliedsparteien voneinander lernen kann.“ Seines Wissens sei die PES die einzige Partei, die ein solches Projekt initiiert habe. Die Teilnahme von Aktivisten als Vertreter der Parteibasis habe bereits viele Parteiveranstaltungen bereichert.

„Es gibt weltweit nirgends so viele Idealisten auf so engem Raum“

Wir brauchen eine kurze Pause, das Café ist nach wie vor recht voll, obwohl es langsam auf den Abend zugeht. Wir holen uns noch einen Kaffee, und ich frage Nils, ob er sich in Brüssel eigentlich wohl fühle? „Hmm“. Er grübelt ein wenig. „Also Brüssel ist für mich eine Stadt ohne einen Kern, ohne eine einheitliche Identität. Vor allem gibt es hier Parallelwelten: die flämische, die wallonische, die arabischen, die afrikanischen und die EU-Community. Zwischen diesen Sphären gibt es selten einen Austausch, daher geht auch der Kontakt zwischen der EU-Community und der Normalbevölkerung verloren - was schon problematisch ist. Dabei gibt es wohl weltweit nirgends so viele Idealisten auf so engem Raum wie hier im EU-Viertel.“ Brüssel selbst gebe sich große Mühe, die Lebensqualität zu verbessern. Jedoch ist sie seiner Meinung nach immer noch deutlich geringer als in anderen europäischen Metropolen. Gerade das Verkehrssystem, die Kriminalitätsbekämpfung sowie die Bausubstanz der Wohnungen seien verbesserungswürdig.

Was, er von Belgien als Land halte, möchte ich wissen. Da kommt Nils auf die wiederkehrenden Regierungskrisen in Belgien zu sprechen. „Ich habe ein wenig Angst, dass Belgien ein böses Omen für die EU sein könnte. Belgien ist für mich nicht wirklich ein Nationalstaat, sondern eine Konstruktion, die verschiedene Volks- bzw. Sprachgruppen unter einem Dach beherbergt. Viele Belgier haben gar keine Beziehung zu Belgien, sondern fühlen sich als Flamen oder Wallonen. Daher gilt für Belgien wie für die EU: wenn verschiedene Identitäten verbunden werden sollen, muss auch eine emotionale Beziehung zum Gesamtgebilde hergestellt werden. Die Menschen müssen das als Teil ihrer Identität empfinden.“ Daran mangele es Belgien wie der EU. Es helfe niemandem, wenn man Europa intellektuell herleiten könne, solange sich die Bürger nicht emotional mit dem Projekt verbunden fühlen.

Wir beenden das Gespräch, und trinken langsam unseren letzten Kaffee. Es ist bereits nach 18 Uhr, das Café schließt ohnehin gleich. Nils muss gleich noch an den Schreibtisch, Brüssel schläft nie und die Partei ohnehin nicht. Wir gehen, sind fast die letzten an diesem Abend und ich genieße die Sonne, während ich durch den Parc Léopold den Heimweg antrete.
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