6
Jun
2010

EU-Blog(3): Idealismus pur

Das dritte Interview: Heinrich, 33, Mitarbeiter einer NGO

Ich habe mich mit Heinrich auf dem Place de Londres verabredet. Es ist ein sonniger Mittwochabend, mit viel Glück ergattere ich noch einen Tisch. Viele Menschen geniessen den Feierabend, nachdem sie ihrer Arbeit und damit den klimatisierten Bürobauten entkommen sind. Wie so häufig findet sich eine bunte Mischung von Menschen hier ein, und an solchen Sommertagen hat Brüssel so etwas wie einen mediterranen Touch.

Während ich auf Heinrich warte, bestelle ich mir ein Wasser. An zwei Nachbartischen scheinen Geburtstage gefeiert zu werden, es wird viel Wein und Cidre getrunken. Heinrich kommt nach einigen Minuten, bestellt sich ein Bier. Er erzählt, er sei im Prinzip relativ entspannt, da er letzte Woche einen größeren Projektantrag abgeben konnte. Er dreht sich eine Zigarette und lehnt sich zurück, geniesst den warmen Sommerabend.

„Deutschland ist mir zu hierarchisch“

Wie er nach Brüssel gekommen sei, frage ich ihn. „Hmm, eigentlich über das Studium. Ich habe ja an der Universität von Kent studiert, die sich vor allem als Europäische Universität in Großbritannien profilieren will. Daher unterhält die Universität auch Außenstellen in Paris und Brüssel. Ich bin also für den Masters-Studiengang nach Brüssel gekommen, nachdem ich meinen Bachelor in Canterbury abgeschlossen hatte.“ Was er denn studiert habe, hake ich nach. „International Conflict Analysis. Danach bin ich für drei Monate nach Afrika in ein liberianisches Flüchtlingscamp gegangen, um mir die Realität vor Ort mal anzusehen.“

Er habe kurz darauf ein Praktikumsangebot im Bereich Finanzjournalismus in Brüssel angenommen und sei letztlich hier hängen geblieben. Ob er denn schon immer nach Brüssel wollte, will ich wissen. „Also, ich war schon immer an Politik interessiert, aber ins Ausland zu gehen wurde für mich erst spät zu einer Option. Ich hatte in Deutschland ein Jurastudium begonnen, aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist. Daraufhin bin ich einige Monate meine Sprachkenntnisse aufgebessert, und da kam mir schließlich der Gedanke, ins Ausland zu gehen. Das Studiensystem in England kam mir dann auch viel mehr entgegen, es war interessanter und besser strukturiert, auch verständlicher.“ Er habe nach Studienbeginn zunächst kaum Kontakt zu anderen Deutschen gehabt, und bald für sich festgestellt, dass er nicht nach Deutschland zurückwolle. Es sei ihm einfach zu hierarchisch organisiert, vieles zu formal. Da komme ihm Brüssel und sein jetziges Arbeitsumfeld schon weit mehr entgegen.

„Ein angenehmes Arbeitsumfeld ist mir wichtiger als ein hohes Einkommen“

Ich frage nach, für welche Art von NGO er denn arbeite? „Es handelt sich um eine Europäische NGO, eine Dachorganisation für Arbeitgeber und Dienstleister für Behinderte, also vor allem Bildungsträger und unterschiedliche Formen von Behindertenwerkstätten. Wir haben auch nur ein kleines Büro, es arbeiten letztlich nur zwei Leute halbtags hier. Damit sind wir eine Anlaufstelle, versuchen die anfallende Arbeit zu erledigen - aber proaktiv oder vorausschauend lässt sich so natürlich nicht arbeiten.“ Er selbst sei offiziell für Kommunikation zuständig, also im wesentlichen für die Pressearbeit, den Kontakt zu den Mitgliedern und die Website. Eigentlich. Denn letztlich sei er doch ein „Mädchen für alles“, verfolge die politische Agenda, sei für Fundraising und Verwaltung zuständig usw. Sicherlich würde er durch diesen Job keine finanziell lukrative Karriere machen, aber das nette und soziale Arbeitsumfeld sei ihm wichtiger. „Die Leute, mit denen ich arbeite, kommen ja aus NGO‘s, das sind ja normalerweise soziale, engagierte Menschen, die über die Arbeit auch persönliche Kontakte knüpfen. Außerdem brauche ich keine Gewissensbisse wegen meiner Arbeit zu haben. Das ist doch etwas sehr Angenehmes.“

Es ist nach wie vor angenehm warm und wir bestellen uns eine weitere Runde Getränke, während er nebenbei weiterraucht. „Was macht ihr denn genau? Wie sieht Deine Arbeit aus?“ frage ich nach einer kurzen Pause. Heinrich gönnt sich noch einen Schluck bevor er antwortet: „Da wir ja ohnehin in Brüssel sitzen, ist Lobbying natürlich ein Teil unserer Arbeit. Wir suchen vorwiegend die Kooperation mit anderen NGO‘s - wie z.B. dem European Disability Forum als Dachverband aller Behindertenorganisationen oder der Social Platform als Zusammenschluss der NGO‘s aus dem Sozial- und Gewerkschaftsbereich. Unsere Hauptaufgabe liegt aber eher beim Wissenstransfer zwischen unseren Mitgliedsorganisationen.“ Sie hätten im Augenblick über 40 Mitgliedsorganisationen in fast 30 Ländern, und der Austausch sei besonders hilfreich seit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU. Aber auch in Westeuropa gebe es noch große Unterschiede gerade bei der Behandlung von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt. In Großbritannien und Irland würden Behinderte zusehends als gleichberechtigte Arbeitnehmer behandelt werden („supported work“), die auch entsprechend bezahlt werden müssten. In anderen Ländern sei das Konzept noch nicht so verbreitet, so dass Behinderte dort nach wie vor stärker in sozialen Einrichtungen wie Behindertenwerkstätten tätig seien(„sheltered work“). Dies sei eine spannende Debatte. Aber sie seien auch unterstützend in Kroatien und der Türkei aktiv, im Rahmen der Vorbereitungen für die EU-Beitritte.

„Behindertenrechte werden mittlerweile selten kontrovers diskutiert“

Welche Rolle die EU denn für Behinderte und die Arbeit mit Behinderten spiele? „Die EU spielt in ganz vielen Bereichen für die Arbeit mit Behinderten eine große Rolle. So sind die Regelungen in der Arbeitszeitrichtlinie für uns elementar, ebenso die Wettbewerbsregeln. Denn gerade die Werkstätten, die nach dem „supported work“ Ansatz arbeiten, werden ja durchaus als Wettbewerber gesehen. Da müssen wir schon aufpassen, was die EU-Kommission als staatliche Förderung für diese Arbeit für zulässig erklärt.“ Auch im Bereich des Zugangs zu Transportmitteln seien die EU-Regeln zu beachten. Außerdem sei die EU 2009 der UN-Konvention über den Schutz von Menschen mit Behinderungen beigetreten, und werde nach der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten dann auch Vorschläge für die konkrete Umsetzung machen. Dies sei das erste globale Menschenrechtsabkommen, dem die Europäische Union direkt beigetreten sei, und nicht nur die Mitgliedstaaten der EU.

„Aber im allgemeinen sind Behindertenrechte nichts kontroverses, wir stossen eigentlich überall auf offene Ohren“ setzt Heinrich fort. So sei vor allem die Wirtschaft in der Regel recht flexibel und willig, wenn man auf sie zuginge. Beispiele seien Microsoft und IKEA, die ihren Mitgliedern sehr entgegenkämen. Schwierigkeiten gebe es manchmal mit den Gewerkschaften. „Die kommen dann ab und an mit dem Argument ‚Da kommen jetzt Behinderte als Billiglöhner und nehmen unseren Leuten die Arbeitsplätze weg‘. Das sind aber oft Missverständnisse, die sich in Gesprächen normalerweise ausräumen lassen. Wir wollen ja, dass Behinderte angemessen bezahlt werden, also wenigstens den Mindestlohn bekommen, den es ja außer in Deutschland überall gibt.“ In England und Irland wäre das auch bereits durchgesetzt worden. Es gebe z.B. auch Überlegungen von Mitgliedsorganisationen, Behinderte verstärkt bei einfachen Pflegetätigkeiten einzusetzen. Er sei gerade dabei, nach bereits existierenden Projekten in diesem Bereich zu suchen, um die Erfahrungen weiterleiten zu können. Das sei es auch, was seine Arbeit auszeichne: konkret weiterhelfen zu können. Allerdings sei er nach wie vor dabei, die Kommunikation mit den Mitgliedern zu verbessern. Da blieben Informationen doch zu oft hängen.

„Belgien ist irgendwie anders - und dabei ziemlich sympathisch“

Ich frage Heinrich, ob er sich in Brüssel wohl fühle. „Ich finde, in Brüssel lässt es sich extrem gut leben. Es ist nicht zu groß, verhältnismäßig günstig, es gibt viel Kultur, fast alles ist fußläufig. Daher sind Metropolen wie Paris oder London auch ziemlich uninteressant für mich, dort verbringt man einfach zu viel Zeit mit pendeln.“ Vor allem die Internationalität fasziniere ihn, das flämisch/wallonische, die unterschiedlichen Europäer, das geniale afrikanische Viertel, der arabische Einfluss, die ganze Multikulturalität. „Es wissen glücklicherweise nicht so viele, dass Brüssel so toll ist. Man kommt zum Praktikum, als Tourist oder ist befristet hier und findet es scheiße. Meistens, ohne die Stadt wirklich entdeckt zu haben. Dabei gibt es hier so schöne Viertel und Ecken, und jede Menge Jobmöglichkeiten. Ich möchte hier auch im Moment nicht mehr weg - nur Wasser, also das Meer, ein See oder Fluß fehlt dieser Stadt, das ist der einzige große Nachteil.“

Bevor ich das Gespräch beende, frage ich ihn noch nach seiner Einschätzung zu Belgien. Im Grunde habe er keine, meint Heinrich, er lebe ja in Brüssel. „Das ist hier irgendwie anders, es ist weder Flandern noch die Wallonie, und leider habe ich nicht so viel Kontakt zu wirklichen Belgiern. Grundsätzlich sind die meisten aber sehr nett. Sicher sei Belgien etwas anders organisiert als Deutschland oder Schweden, es ist chaotischer, aber entspannt und sympathisch“. Aus seiner Sicht seien die Arbeitnehmerrechte in Belgien schon sehr gut, die ganze Deregulierungswelle habe hier nicht stattgefunden, wohl auch aufgrund des komplizierten belgischen Föderalismus. Insgesamt sei er hier mit den staatlichen Leistungen ohnehin sehr zufrieden, Belgien sei einfach ein nettes kleines Land. Dabei leert er genüsslich sein Bier, und neben den Fritten ist Bier ja die wichtigste kulinarische Spezialität in Belgien.

Das Interview ist vorbei, es ist mittlerweile kühl geworden und ich bestelle mir noch einen Kaffee. Auch der Place de Londres ist nun leerer, aber immer noch recht belebt. An solchen Abenden hat Brüssel wirklich Flair - und ich geniesse meinen Feierabend.
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