26
Mai
2010

EU-Blog(2): Mehr Kontroversen, bitte!

Bitte Vorspann zum ersten EU-Blog beachten.

Das zweite Interview: Estelle, 29, Mitarbeiterin einer französischen Europaabgeordneten

Ich treffe Estelle im Charles Quint, einer relativ neuen Kneipe/Brasserie an der Ecke vom Place Luxembourg, direkt neben dem Europäischen Parlament. Es ist der Freitag nach Himmelfahrt, für viele eigentlich ein Brückentag. Doch viele der Assistentinnen und Assistenten, wie die Mitarbeiter der Europaabgeordneten offiziell heißen, arbeiten heute trotzdem. Das liegt zum einen daran, dass sie einfach viel zu tun haben, zum anderen an der bevorstehenden Plenarwoche in Straßburg, die in der Regel intensiv vorbereitet werden muss. Zur Erklärung: Das Europäische Parlament ist durch die Europäischen Verträge verpflichtet, einmal im Monat seine Plenartagungen in Strassburg abzuhalten, das offizieller Sitz des Parlaments ist. Alle anderen Arbeiten wie z.B. Ausschuss- oder Fraktionssitzungen, finden am Brüsseler Parlamentssitz statt, in Laufweite zu den anderen Institutionen der EU. Jeden Freitag vor einer solchen Woche werden die Akten in Kisten, den so genannten Kantinen, gepackt und abgeholt.

Dennoch ist es ruhiger als sonst, denn es ist erst fünf Uhr nachmittags, an normalen Arbeitstagen komme sie selten vor 20 Uhr aus dem Büro, berichtet sie mir. Nach dem unsere Getränke da sind - ich starte mit einem Kaffee, Estelle hat sich ein Bier verdient - frage ich, wie sie in die Europapolitik gekommen sei. Europa sei ihr in die Wiege gelegt worden: Estelle selbst ist in Kehl als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen, ging aber in Straßburg zur Schule. Sie studierte danach Politikwissenschaften, trat bereits 1998 den französischen Jusos bei und ein Jahr später der PS(Parti Socialiste). Der Europawahlkampf 1999 war folglich das erste große politische Ereignis, an dem sie aktiv teilnahm. Später arbeitete sie in Paris, war im Vorstand der französischen Jusos für den Bereich Europa zuständig und im Vorstand von Ecosy, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Jugendorganisationen Europas.

Wie sie dann nach Brüssel gekommen sei? „Ein jüngerer französischer Europaabgeordneter, den ich aus der Arbeit bei den französischen Jusos ganz gut kenne, rief mich vor 4 Jahren an und sagte, eine Kollegin suche noch eine Assistentin und ob ich mich nicht bewerben wolle.“ Das habe dann auch gleich geklappt und seitdem sei sie in Brüssel. Sie habe eigentlich auch immer im Parlament arbeiten wollen. „Mir gefällt die Arbeit, es ist hektisch, es passiert unheimlich viel auf einmal. Da wäre mir die Arbeit bei der Europäischen Kommission zu langweilig. Aber vor allem bin ich hier direkt am politischen Prozess beteiligt, an den Gesetzesberatungen. Das ist schon sehr spannend.“ Allerdings dauere es eine ganze Weile, bevor man die Abläufe kennt, die nötigen Kontakte geknüpft habe. Nach vier Jahren im Parlament sei sie aber nun an dem Punkt angelangt, sich verändern zu wollen. Auf Dauer könne man sich im Alltag leider nur oberflächlich mit vielen Themen beschäftigen - als Assistentin sei sie ja auch für viele organisatorische Angelegenheiten rund um die Abgeordnete zuständig, auch wenn sie eine Kollegin für diesen Arbeitsbereich habe.

„Das Tagesgeschäft verstellt oft den Blick für die wichtigen Debatten“

Ich bestelle noch mal Getränke, und in Belgien muss man ja eigentlich ein Bier am Abend trinken - jede anständige belgische Kneipe hat mindestens 10 verschiedene Biersorten auf der Karte, eine Bar im Zentrum hat ca. 3000 unterschiedliche Biere vorrätig. Das Bier kommt, und mich interessiert, ob die Arbeit im Parlament ihren Vorstellungen entspricht. „Nun, ich hatte eigentlich erwartet, mehr Kontakt mit Mitarbeitern anderer Delegationen zu haben. Der alltägliche Austausch ist doch oft auf die anderen französischen Assistenten und Assistentinnen der PS beschränkt. Es dauert eine Zeit, bis man zu anderen Delegationen Kontakte knüpft, und die ergeben sich meistens über die direkte Zusammenarbeit in den Ausschüssen“. Auch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der anderen französischen Fraktionen habe sie relativ selten zu tun. Das sei insgesamt sehr schade, denn das eigentlich spannende am Europäischen Parlament seien letztlich die internationalen Kontakte, die unterschiedlichen Kulturen, die neu zu entdeckenden Blickwinkel. Aber am Ende eines Arbeitstages habe sie selten Lust, sich abends noch auf Englisch zu unterhalten, dass sei dann auch eine Konzentrationsfrage.

Am Nachbartisch wird es gerade etwas lauter, eine Gruppe italienischer Parlamentsmitarbeiterinnen hat sich eingefunden und hat offensichtlich viel Spaß. „Was reizt Dich denn an der parlamentarischen Arbeit hier besonders?“ frage ich, nachdem es wieder etwas ruhiger geworden ist. Nach kurzer Überlegung antwortet Estelle: „Die Arbeit mit dem Ausschusssekretariat finde ich eigentlich sehr spannend. Meine Chefin ist ja Ausschussvorsitzende, da sind natürlich viele Weichenstellungen zu treffen.“ Ich frage nach: „Deine Abgeordnete ist jetzt Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und Arbeit (EMPL), sie war vorher im Ausschuss für Ausschuss für Wirtschaft und Währung(ECON). Beschäftigung und Soziales sind wichtige Felder für die S&D-Fraktion(Sozialisten/Sozialdemokraten und Demokraten). Macht sich das in Eurer Arbeit bemerkbar?“ Sie sagt, es sei zunächst einmal festzustellen, dass die Fraktion nur selten mit der Partei(gemeint ist die PES: Partei der Europäischen Sozialdemokraten) zusammenarbeite. Auch seien insgesamt strategische Debatten nicht sehr häufig, da der gesetzgeberische Alltag eine zu große Rolle spiele. Da sind dann taktische Erwägungen innerhalb des Hauses wichtiger, gerade im EMPL-Ausschuss haben wir noch relativ wenig harte Gesetzgebung, da fallen strategisch wichtige Debatten schon mal hinten runter.

„In Frankreich kommt die EU noch seltener in den Medien vor als in Deutschland“

Sie habe außerdem den Eindruck, dass die französischen Sozialisten insgesamt unzufrieden mit der Fraktion seien, da diese zu oft den Konsens suche. „Die Fraktion meint oft, das Europäische Parlament als Ganzes gegen den Europäischen Rat und die Kommission stark machen zu müssen. Nach dem Lissabon-Vertrag haben wir ja nun mehr Macht, da kann man die alten Verhaltensmuster endlich ablegen und die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien deutlich machen. So haben die französischen Sozialisten nicht verstanden, warum die Barroso-Kommission nicht von der gesamten Fraktion abgelehnt wurde.“ Ihrer Meinung nach müsse man damit aufhören, Europa immer als Idee zu verteidigen, denn die Leuten würden nicht Europa wählen, sondern Parteien. Wenn die nur europapolitische Seminare abhielten und europapolitischen Konsens predigten, gebe es keinen Grund, sich für Europa zu interessieren oder einzusetzen - und schon gar keinen, zur Europawahl zu gehen. Die Bürger in Europa seien doch oft gegen die EU, weil sie als unsozial empfunden werde. Das wäre doch ein Grund mehr, zu sagen, wer denn da diese unsoziale, marktliberale Politik mache und wo die Sozialdemokraten eigentlich hinwollten. Das werde aber oft nicht klar gesagt und nicht strategisch genug angegangen.

Welche Rolle denn europäische Themen in Frankreich spiele, frage ich weiter. „Europa kommt in den französischen Medien noch seltener vor als in den deutschen, und wenn es Thema ist, dann meist negativ besetzt. Errungenschaften oder positive Auswirkungen werden selten dargestellt. Daher müssen die Abgeordneten eigentlich noch viel mehr in Parteien und Wahlkreise wirken, um die Vielfältigkeit, die positiven wie negativen Ergebnisse europäischer Integration auch in der Breite zu kommunizieren. Die Bürger können sich doch gar kein eigenes Bild machen, weil die Medien die Überschriften immer vorgeben: Europa ist unsozial, es ist bürokratisch, etc.“ Seit dem Lissabon-Vertrag gebe es aber immerhin eine bessere Anbindung an die Nationalversammlung, die die strategische Bedeutung des Europäischen Parlamentes langsam erkenne. Ich merke an, dass die deutschen Sozialdemokraten mittlerweile mehr Kontakt nach Berlin haben, seit diese dort in der Opposition seien. Die strategische Bedeutung der Europaabgeordneten wachse in Zeiten nationaler Opposition, das scheine in Frankreich ähnlich zu sein. Estelle nickt.

„Es braucht seine Zeit, um sich in Brüssel wohl zu fühlen.“

„War es denn schwierig für Dich, sich in Brüssel einzuleben?“ Sie zögert. „Zu Beginn schon. Das lag aber auch daran, dass ich in den ersten Monaten relativ häufig in Frankreich war, bei Freunden oder weil ich noch Ehrenämter hatte. Mittlerweile habe ich mich eingelebt, wobei es Zeit braucht, bevor man sich in Brüssel wohl fühlt. Aber eigentlich leben wir ja hauptsächlich im Europaviertel, treffe viele nette Menschen auch unterschiedlicher Nationalität treffen. Die ersten Monate verbringt man ja oft auf dem Place Luxembourg, aber das wird schnell langweilig, wenn man sich hier zurechtgefunden hat. Die Lebensqualität ist außerdem sehr hoch, es gibt viele Parks, und im Gegensatz zu Paris ist das meiste fussläufig zu erreichen. Das ist schon ein großer Vorteil.“ Wirklich frustrierend sei allerdings, dass man weit weg von den Strukturen in Frankreich sei. Wenn man irgendwann zurückwolle, sei dies problematisch, da man ja jahrelang nicht wahrgenommen worden sei. Gerade in der Parteiarbeit mache sich das bemerkbar, auch wenn es eine Sektion der französischen PS in Brüssel gebe. „Die sind halt auch weit weg. Außerdem vermisse ich hier die soziale Mischung, die die Parteiarbeit vor Ort in Frankreich ausgezeichnet hat. In Brüssel sind die Parteimitglieder allesamt im politischen Bereich tätig, haben studiert, etc. Das ist in Frankreich anders, da sitzen auch Arbeitslose oder Arbeiter am Tisch, die nicht zur Universität gegangen sind.“ Diesen Austausch vermisse sie doch sehr. Deshalb sei sie auch bei den PES-Activists aktiv, aber da sei die Lage ähnlich wie bei der PS(zu diesem Programm wird ein anderer Gesprächspartner noch erklären).

Ich frage sie, wie sie die Politik in Belgien wahrnimmt? „Belgien selbst ist ein sehr kompliziertes Land, das anfangs schwer zu verstehen ist. Ich habe ja am Wahlkampfauftakt der PS (Parti Socialiste - wallonische Sozialdemokraten) teilgenommen. Da gab es keinen Gastredner der flämischen Schwesterpartei, und auch sonst scheinen die Parteien sich kaum auszutauschen. Meiner Beobachtung nach orientiert man sich eher nach Frankreich oder im Falle der sp.a (socialisten en progressieven anders - flämische Sozialdemokraten) gen Niederlanden. Aber ich habe mir vorgenommen, mich in diesem Wahlkampf mehr mit der Politik in Belgien zu beschäftigen.“ Wir beenden das Gespräch bei einem weiteren Jupiler - nicht das beste belgische Bier, aber immerhin.

Jester‘s Door - Die Kneipe der Narren (1)

Dies ist ein sozialistischer Groschen-Kneipenroman, als solcher angelegt, hoffentlich etwas unterhaltsam, humorvoll, nostalgisch...ein comical relief. Wenn es Spaß macht,gibt es mehr, wenn nich, nich ;-)


Jester‘s Door - Die Kneipe der Narren (1)

Es war ein warmer Sommertag, an dem ich das Jester‘s Door das erste mal betrat. An und für sich eine klassische Eckkneipe, auf die ich in dieser Seitenstraße stieß. Gelegen in einem vierstöckigen Gründerzeitbau, war durch die kaum geputzten Scheiben nur wenig des dunklen Holzmobiliars zu sehen. Ein Schild quietschte im seichten Wind, auf dem eine leicht geöffnete Tür zu sehen war - und eine Narrenkappe, die aus der Öffnung hervorlugte. Neben Guiness wurde auch Flensburger beworben, ich war durstig, und der verbleichte Slogan „Only Socialist pub left between Denmark and Hamburg“ sagte mir zu.

Ich trat ein, staubige Luft und Biergeruch empfangen mich. Eine lange Theke, zwei gelangweilte Typen dahinter. Die Kneipe war deutlich größer, als ich dachte. Hinten gab es eine kleine Bühne, gleich beim Durchgang zu den Toiletten. Über der Bühne hing ein Plakat: „The Worker‘s voice - Only tonight and every night thereafter“. An der Wand rechts davon hingen Wahlaufrufe für Willy Brandt und einige andere lokale Sozis, ein Che-Poster, der Text der Internationalen in drei Sprachen, Fotos von Anti-Atom-Demos sowie ein Aufruf zur Teilnahme am Sozialistischen Redezirkel Nord. Darunter eine langgezogene Bank, zwei ältere Männer saßen dort wie festgewachsen vor einem Schachbrett. Links gab es einen Flipper und in einem Nebenraum einen Billardtisch, an dem einige Punks und Spätrevoluzzer um ein Hannes Wader Autogramm spielten.

Ich ging zum Tresen, bestellte mir ein Bier. Der Typ hinter dem Tresen war zunächst nicht sehr gesprächig, war aber nicht wirklich unfreundlich. „Nettes Kneipenschild habt ihr da“ sagte ich. Der stämmigere antwortete: „Danke. Kommt bestimmt noch, der Jester. Nach Feierabend.“ Aha?! „Trägt der auch so ein Kostüm?“ Die beiden Wirte grinsten sich an. „Nee,“ sagte der Dünne, „der macht sich nur zum Narren. Jeden Abend, pünktlich ab Acht. Wirst schon sehen.“ „ah, ok.“ Nach acht? Es war gerade mal 16 Uhr durch, solange würde ich bestimmt nicht bleiben, dachte ich. Langsam kam ich mit den beiden ins Gespräch, der stämmigere hieß Jens, den dünnen nannten alle nur Timemaster, Timemaster Ten. Schienen irgendwie hängengeblieben zu sein, die beiden. Aber recht nett. Sie wechselten die Musik, nun lief Fischer Z, und die Punks hatten ihren Spaß, waren aber schon total hinüber und hatten natürlich beim Billard verloren.

Ich war mittlerweile beim zweiten Bier und brauchte dringend was zu essen. Ich fragte nach dem nächsten Döner, worauf mich der Timemaster nur anschaute und sagte: „Gegessen wird zu Hause oder hier, wenn Du hier noch ein Bier trinken willst, kloar?!“ „Äh, ja, was gibt es denn?“ winselte ich etwas eingeschüchtert. Jens reichte mir die Karte, raunzte „schon besser“ und ging zu einem größeren Tisch, den er als reserviert kennzeichnete und einige vorgezapfte Biere bereitstellte. Ich bestellte mir eine Salami Flöte, dann kamen auch schon fünf ziemlich verwegene Gestalten herein. „Jo, Bier is klar, vorwärts Jungs!“ Sie setzten sich an den Tisch, der Timemaster stellte die stehengebliebene Wanduhr richtig ein und die beiden Wirte nahmen an der Sitzung des „Sozialistischen Redezirkels Nord“ teil. Jens drehte sich zu mir um, zeigte mit seinem Finger auf mich und rief: „Du! Komm hier rüber. Du hast noch ne Menge zu lernen, min Jung!“ Ich schluckte und ging zum Tisch.

So vergingen die nächsten beiden Stunden mit Marx und Mao rezitierenden Alt-68ern, Godesberg und der Globalisierungskritik, einem Exkurs über die Sozialisierungsmöglichkeiten nach dem Grundgesetz und der Möglichkeit von Notwehr bei Bankerversagen. Mir schwirrte der Kopf, und ich fragte Jens zwischenzeitlich, ob dieser Laden als Kollektiv funktioniere. Er schüttelte mit dem Kopf, und der Timemaster antwortete, nachdem er die Wanduhr auf Verlangen neu gestellt hatte: „Nee, das haben wir früher mal probiert, aber das hat nun goar nich funktioniert, da haben Jens und ich Nägel mit Köppen jemacht.“ Jens nickte: „Jo, dat is so zehn Jahre her. Seitdem halten wir uns wenigstens über Wasser.“ Was denn außer diesem Lesezirkel noch sozialistisch wäre in diesem Laden, fragte ich sie. „Na, die Band“ sagte der Timemaster und lachte. Jens grinste: „Jo, und dann ist die Bezahlung auch sehr solidarisch. Jeder Stammgast hat nen Zettel, die der armen Schlucker werfen wir am Ende des Monats weg, und die die mehr haben, zahlen halt mehr als auf ihrem Zettel steht. Können sie sich eh‘ nich merken!“ Beide lachten laut. „Wir nennen dat „Robin Hood“ Saufen.“ Er zwinkerte mir zu. „Und wenn wir mal nich genug in der Kasse haben, holen wir die Herren und Damen Abgeordneten ran, die müssen dann ausgleichen. Die Sozis können froh sein, wenn die hier noch kleben und tagen dürfen, da müssen sie dann schon Abbitte leisten!“

Die Sitzung ging langsam zu Ende, ich rieb mir verwundert die Augen, es war bereits sieben. Ich bestellte mir noch ein Bier und wartete gespannt auf die Ankunft des Jesters...

Kaffee. Schwarz. Bitte!!!

Eine Geschichte aus dem Alltag

Grau. Warum waren Bahnfahrten immer so grau. Der Himmel: grau. Die Gesichter der Mitreisenden: grau. Temperatur: kaltgrau. Stimmung: müdgrau. Stimme der Schaffnerin: gelangweiltgrau. Die durchfahrenen Bahnhöfe: schimmerndgrau. Noch zwei Stunden dieses grau. Schlafen ist wegen des Raps auf den mp3-Player Kopfhörern meines Nachbarn nicht möglich, also was tun?

Ich überlege kurz, kämpfe mich schließlich aus dem Sitz und mache mich auf den langen Weg zum Bistrowagen. Taumelnd bewege ich mich durch die Wagons, stütze mich auf den Kopflehnen ab, verliere das Gleichgewicht, wenn der Zug mal wieder schwankt wie ein Schiff auf hoher See. Endlich bin ich im Speiseabteil. Fünf genervte Bahnfahrer stehen an der Ausgabe Schlange. Die Abfertigung dauert lange, da die meisten die Frechheit haben, überteuerte Speisen oder Getränke zu bestellen, die leider schon aus sind - und sich daher ganz neu entscheiden müssen. Meistens nehmen die Leute dann irgendetwas und bezahlen einen Wucherpreis für ungewollte Nahrung, statt sich umzudrehen und mit leeren Händen an den Platz zurückzukehren.

Endlich bin ich an der Reihe. Einen Kaffee, schwarz, nein auch keinen Zucker. Die Bahnmitarbeiterin schaut mich etwas skeptisch an. Zur Sicherheit nehme ich mir noch ein Mineralwasser mit. Das ganze ist zusammen fast so teuer wie eine Packung Gourmet-Lachs, aber gut, ich habe ja keine Wahl. Nach heldenhafter Wanderung durch die schwankenden Wagons - ich habe es tatsächlich geschafft, den Kaffee nicht über eine Frau in Tigermuster-Aufmachung zu giessen - erreiche ich schließlich wieder meinen Platz. Ich richte mir alles so ein, dass ich gemütlich lesen und meinen Kaffee geniessen kann. Bis zum ersten Schluck. Mein Mund zieht sich zusammen, ich schaue ungläubig auf den Pappbecher, öffne den Deckel. Vorsichtig rieche ich an dem Gesöff, dass lediglich eine leicht bräunliche, dunkle Farbe mit dem gemein hat, was ich Kaffee nenne. Ich probiere einen zweiten Schluck, komme zum gleichen Ergebnis, stehe auf und entsorge den Kaffee in der Toilette.

Eine kleine Flasche Wasser später, fünf Seiten weiter und noch genervter komme ich am Zielbahnhof an. Wobei das nicht stimmt, der Bahnhof ist nicht mein Ziel, sondern das Gespräch zwei Stunden später. Ich fühle mich müde, abgespannt, will jetzt endlich etwas Ruhe und gehe daher zum nächsten Kaffeeladen. Ich schaue auf die Auslage, entscheide mich für einen Kuchen. Relativ zügig darf ich auch bestellen. Ich zeige auf den Kuchen, den ich bestelle, und natürlich möchte ich einen Kaffee dazu. Schwarz. Ohne Zucker. Diesmal ein leicht gelangweilter Blick von der Kassiererin. Welcher "Blend" es denn sein solle? Ich sage, ich möchte einfach nur guten Kaffee. Die seien alle gut, ich müßte mich halt entscheiden, aber der Caramel-Macchiato, die Vanilla-Latte oder der White-Mocca seien eher zu empfehlen. Mir schwant wieder das Böse, ich nehme den am wenigsten "teuren Houseblend". Der ist aus. Also "Columbian Dream". Die Frau schaut mich skeptisch an, der hätte eine ziemlich eigene Note, man sollte ihn besser nicht schwarz trinken. Ich antworte, Kaffee, der schwarz und ohne Zucker nicht schmeckt, ist kein Kaffee. Ich bestelle den kleinsten möglichen Becher.

In der Tat, kein wirklich guter Kaffee, aber um Längen besser als dieser Pseudokaffee aus dem Zug. Wahrscheinlich war der Kaffee sogar ganz gut, aber die Kaffeemaschinen, die diese Franchise-Kaffeeläden nutzen, mögen ja für Espresso oder Cappuccino geeignet sein, für richtigen, frisch gemahlenen Filterkaffee reicht es halt nicht. Das galt auch für die Bahn, denn diese Automaten da waren ebenfalls total ungeeignet. Den besten Kaffee in einem Zug hatte er mal bei einem Menschen erhalten, der finanziert durch die Arbeitsagentur als Frühstücksangebot frischen Kaffee und Brötchen im Zug verkaufte. Der hatte richtigen Kaffee dabei gehabt. Traurig. Früher gingen Läden pleite, wenn sie keinen vernünftigen Kaffee servierten. Heute ist es umgekehrt: Der Kaffee kann noch so gut sein, wenn man seinen Milchkaffee nicht "Café Latte" nennt oder irgendwelche künstlichen Geschmacksaromen zufügt, kann man gleich dichtmachen.

Ich trinke nun also diesen nicht ganz so schlecht schmeckenden "Columbian Dream" und versuche, mich auf meinen Termin vorzubereiten. Leider kaum möglich, da diese Kaffeemaschine beim Milchaufschäumen einen derartigen Krach macht, dass man meinen könnte, sie fliege mir gleich um die Ohren. Ich trinke dann also die Hälfte dieses Kaffees, gehe in mein Hotel und checke ein. Auf dem Zimmer angekommen bestelle ich mir einen Kaffee und eine Pizza, der Kuchen im Café war so trocken gewesen, dass ich nur zwei Bissen runterbekommen habe. 20 Minuten später klopft der Zimmerservice. Diesmal kann ich es schon gleich riechen: Richtiger Kaffee! und die Pizza ist auch nicht übel. Auf die Rechnung schaue ich erst später. Der Kaffee ist günstiger als in der Bahn. Ich bestelle noch einen, hole mein Buch raus, und geniesse die Stunde, die mir noch bleibt. Lesend und meinen Kaffee geniessend. Schwarz. Ohne Zucker. Einfach nur Kaffee.

Der EU-Blog(1): Kampf um die Aufmerksamkeit

Die Europäische Union bleibt oft ein Buch mit sieben Siegeln, und Brüssel wird häufig als Synonym für Bürgerferne und Lobbyismus benutzt. Ich möchte mit diesem Blog eine Reihe starten, in der ich Menschen vorstelle, die rund um die EU arbeiten. Was passiert in Brüssel? Wer arbeitet da? Wieso erfahren wir so wenig aus Europa? Wie sind die Abläufe? Wie viel Einfluss haben die Lobbyisten wirklich? Und was macht Brüssel eigentlich aus?

Diese und weitere Aspekte möchte ich mit unterschiedlichen Gesprächspartnerinnen und -partnern erläutern. Dabei geht es mir darum, dem anonymen EU-Betrieb menschlich fassbare Konturen zu verleihen. Wer dazu Anregungen hat oder bestimmte Fragen erörtert haben möchte, kann mir gern schreiben.

Meine erste Interviewpartnerin: Teresa, 33, Journalistin aus Schweden

Ich habe mich mit Teresa im Stoemelings verabredet, einer kleinen, typisch belgischen Kneipe am Place de Londres. Fünf Minuten entfernt vom Europäischen Parlament und am Rande des afrikanisch geprägten Viertels Matonge gelegen, trifft sich hier ein gemischtes Publikum aus Belgiern, EU-Menschen und anderen Zugewanderten. Ich setze mich an einen einfachen Holztisch, bestelle einen Lait Russe - die belgische Variante des Milchkaffees. Pam, die Kneipenbesitzerin, diskutiert am Nebentisch die Zubereitung tibetanischer Speisen mit zwei Asiatinnen, während ihr einziger Mitarbeiter mir den Kaffee zubereitet. Pams Familie stammt aus Tibet, sie selbst ist in Belgien aufgewachsen. Auch ihr Mitarbeiter kommt aus einer asiatischen Einwandererfamilie. Ich rede hier immer Französisch - man kommt sich doch etwas komisch vor, wenn auch mit Belgiern immer englisch oder deutsch gesprochen wird.

Das Wetter ist grau, und durch die dunkle Holzverkleidung ist es in der Kneipe noch dunkler, nur die Spiegel an der Rückwand reflektieren das Licht. Teresa kommt pünktlich, wirkt aber gestresst. „Seit dem Beginn der Griechenlandkrise hat mich unsere Finanz- und Wirtschaftsredaktion für sich gebucht“ erklärt sie leicht außer Atem. Sie arbeitet seit Januar für eine der beiden großen schwedischen Tageszeitungen als Korrespondentin, war vorher als eine der typischen Bauchladenjournalistinnen für verschiedene Publikationen in Brüssel als freelancer tätig. Insgesamt ist sie bereits seit fünf Jahren in Brüssel. Ich lasse sie etwas zur Ruhe kommen, bevor ich ihr meine Fragen stelle. Sie bestellt sich einen Rotwein, legt das Handy auf den Tisch. Die Familie wolle noch aus Schweden anrufen. Für mich ist das natürlich kein Problem.

Ich erkläre ihr, was ich genau vorhabe und auf welcher Plattform ich den Blog schreibe. Sie tippt etwas ins Handy, bevor wir anfangen. Ob es schon immer ihr Wunsch gewesen sei, in Brüssel zu arbeiten? „Ich bin eine typische Europäerin“ antwortet sie. „Meine Mutter ist Spanierin, mein Vater halb deutsch, halb dänisch - und ich bin in Schweden aufgewachsen. Ich ging später in Frankreich zur Schule, war dann in Spanien. Ich wußte daher schon früh, dass ich meine Sprachkenntnisse nutzen wollte. Als ich dann vor der Wahl stand, habe ich mich gegen ein Studium als Übersetzerin entschieden und für den Journalismus.“ Ihr sei es wichtig gewesen, selbst etwas aussagen zu können, und nicht nur Meinungen anderer wiederzugeben. Den Schwerpunkt EU-Journalismus habe sie dann gewählt, weil Europa schon damals als wenig attraktiv galt unter Journalisten. Dies schien ihr die richtige Nische zu sein, um trotz des Konkurrenzdrucks in der Medienwelt einen interessanten Job bekommen zu können. So sei sie dann auch für ein Praktikum nach Brüssel gekommen und ist gleich geblieben.

„Die EU sehe ich sehr pragmatisch.“

„Was bedeutet die Europäische Union dann für Dich?“ stelle ich die nächste Frage. Europa sehe sie eher pragmatisch, antwortet sie. Da Schweden ja sehr spät der EU beigetreten sei, hätte auch sie nicht diese emotionale Verbundenheit wie viele Deutsche oder Franzosen. „Das Friedensprojekt Europa hat sicherlich große historische Bedeutung, aber die Menschen halten Frieden mittlerweile für etwas Selbstverständliches. Die Zeit schreitet voran, und die Menschen müssen vom Sinn der Europäischen Union mit anderen Argumenten überzeugt werden. Ganz pragmatisch, auch kritisch. Mit sentimentalem Pathos kommen wir nicht weiter.“ Sie stelle Leuten immer die praktischen Vorteile der Europäischen Union dar, beim Umweltschutz, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität oder bei Krankheitsepidemien. Dies seien alles Probleme, die nationale Grenzen ignorierten. Da sei die europäische Harmonisierung in vielen Fällen sehr hilfreich. Aber man dürfe auch die Probleme nicht verleugnen. So sei heute niemandem mehr zu vermitteln, warum das Europäische Parlament einmal im Monat in Strassburg tagen müsse.

Welche Themen sie denn schwerpunktmäßig bearbeite? „Nun, als Korrespondentin muss ich alle politischen Bereiche abdecken, im Moment ist es halt sehr viel Finanz- und Wirtschaftspolitik. Vorher habe ich mich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Rechtspolitik sowie der Außen- und Verteidigungspolitik beschäftigt. Aber grundsätzlich versuche ich den Leuten bei allem zu erklären, warum Entscheidungen auf europäische Ebene getroffen werden und welche technischen wie rechtlichen Probleme es bei deren Umsetzung gibt.“ So benötige das eine Land die Zustimmung des Parlaments, ein anderes müsse in einigen Fällen ein Referendum abhalten - und Deutschland habe ständig Probleme mit dem Verfassungsgericht, das es in Schweden z.B. nicht gebe. Ein Europäischer Konsens brauche daher Zeit, er müsse zwischen den Europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten ausgehandelt werden. Das müsse erstmal dargelegt werden.

„Es ist ein ständiger Kampf, Europäische Themen in die Zeitung zu bekommen.“

An dieser Stelle des Gesprächs meldet sich ihr Telefon. Während sie das Gespräch führt, bestelle ich mir einen weiteren Kaffee und schaue mich um. Das Publikum hat gewechselt, es sitzen einige spanische Abgeordnetenmitarbeiter am Fenster, am Tisch daneben feiern einige junge Belgier. Die beiden Frauen neben uns geniessen mittlerweile so etwas wie tibetanische Ravioli. Schließlich beendet Teresa das Telefonat lächelnd, aber etwas erregt: „Das war meine Redaktion. Sie wollen, dass ich am Sonntag die Titelstory schreibe. Der Sondergipfel zur Griechenlandkrise.“

Ich schließe meine Frage an, wie denn generell die EU in Schweden wahrgenommen werde? „Kaum. Sonst ist es sehr schwierig, überhaupt Artikel über Brüsseler Politik in die Zeitungen zu bekommen. Ehrlich gesagt bin ich eigentlich etwas frustriert darüber, immer dafür kämpfen zu müssen, dass meine Artikel gedruckt werden.“ Schweden hätte der Beitritt zur Europäischen Union nun mal nicht besonders verändert, daher sei das Interesse gering. Folglich gebe es in Brüssel auch mehr maltesische Journalisten als schwedische. Was dazu führe, dass sie als einzige Korrespondentin der großen schwedischen Tageszeitungen für die schwedischen Politiker auf europäischer Ebene von enormer Bedeutung sei - als freelancer sei sie nicht so beachtet worden.

Ohnehin nutze die schwedische Politik die EU vorwiegend als Ausrede. „Wenn sie etwas unpopuläres durchsetzen, dann liegt es an Europa - und wenn sie eine andere Entscheidung nicht treffen wollen, dann geht es nicht, weil Europäische Gesetze es verbieten. Dabei will ich doch von der schwedischen Politik, dass sie schwedische Interessen in Brüssel vertritt und annehmbare Kompromisse aushandelt.“ Mittlerweile hätte sich allerdings gezeigt, dass auch kleinere Länder ihre Interessen durchsetzen könnten, wenn sie eine Vermittlerrolle einnehmen. Einem schwedischen Vorschlag könne mitunter eher zugestimmt werden als einem deutschen, französischen oder englischen, selbst wenn er inhaltsgleich sei.

„Ich liebe Brüssel!“

Ich frage sie, ob ihr Brüssel eigentlich gefällt. „Ich liebe es!“ antwortet sie enthusiastisch. „Brüssel ist voll Leben, Musik, Kunst, Kultur, es ist ständig etwas los. Eigentlich lebe ich ja im Euroland, habe täglich mindestens 30 unterschiedliche Nationalitäten um mich. Und Brüssel ist ja ohnehin multikulturell geprägt, Flamen und Wallonen organisieren viele Festivals. Außerdem sind die Opernhäuser toll, und ich liebe Oper.“ Belgien habe zwar einen chaotischen Ruf, aber eigentlich sei es sehr liebenswert. Letztlich hätten die Belgier die Fähigkeit, in den aussichtslosesten Situationen noch irgendwie einen Kompromiss zu finden. Einzig der Wohnstandard würde sie ab und an stören, das sei mit Deutschland oder den skandinavischen Ländern wirklich nicht zu vergleichen.

Ich lächle, jeder Expat kennt die Probleme mit Warmwasserboilern, Heizungen und undichten Fenstern. Wir lassen das Gespräch bei einem Glas Rotwein ausklingen und machen uns anschließend auf den Weg zum Place Lux - eigentlich Place Luxembourg, einer stark frequentierten Ansammlung von Bars direkt vor dem Europäischen Parlament. Teresa will noch eine dänische Freundin treffen, für mich liegt es auf dem Heimweg. Die Freundin arbeite als freelancer, wie sie selbst zuvor. Als wir ihr vor einer weniger überlaufenen Kneipe des Platzes begegnen, führen wir die Unterhaltung kurz auf dänisch fort und Teresa berichtet vom Interview. Die Kollegin erzählt, dass sie demnächst auch Beiträge für ein Radioprogramm produzieren soll und dafür noch witzige Anekdoten suche. Ich schlage die berühmten Haikus des belgischen EU-Ratspräsidenten van Rompuy vor, als sich Teresas Handy mit einer SMS meldet. Ein Freund hat ihr geschrieben, die Freitag Community sei absolut lesenswert und sie hätte mit dem Interview nichts falsch gemacht. Ich rate ihr, den Blogbeitrag abzuwarten, verabschiede mich und unterquere das Europäische Parlament - die Arbeit wartet.
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