9
Okt
2010

Jester‘s Door 3: Die BAND

Ich saß noch immer an der Theke des Jester‘s Door, trank meinen Kaffee und wartete gespannt auf die Dinge, die noch kommen würden. Jetzt war ich schon seit über vier Stunden in dieser Kneipe, in die mich ein Zufall, ihr absurder Name und das verwitterte Kneipenschild hineingetragen hatten. Es wurde nun immer voller, was vor allem daran lag, das die BAND gerade aufbaute und dabei über die kleine Bühne hinaus einigen Platz in Anspruch nahm. Ich betrachtete das Schachbrett, auf dem sich seit Stunden offensichtlich nichts bewegt hatte. Lediglich die Bärte der beiden greisen Spieler schienen länger geworden zu sein.

Am anderen Ende der Theke hatte sich der Jester in eine langwierige Diskussion über die Kommerzialisierung der Independant-Musik verwickelt, eine Auseinandersetzung, die durch den zunehmenden Alkoholpegel weder strukturierter noch logischer wurde. Mittlerweile handelte es sich eher um einen Monolog, und die beiden Zuhörer und ehemaligen Mit-Diskutanten nickten nurmehr mit dem Kopf, offensichtlich leicht genervt und nach einem Ausweg aus dieser Unterhaltung suchend.

Bambam! Das Schlagzeug hatte gesprochen, die Menschen starrten zur Bühne. Die BAND war fertig mit dem Aufbauen und es wurde leiser im Raum. „So, Leute, seid ihr bereit für „Worker‘s voice“?“ schrie der Sänger ins Publikum. Die Anwesenden murmelten begrenzt begeistert Dinge wie „Jo“ oder „wat denkt der denn“, aber das schien den Sänger, ein schmächtiger, langmähniger Typ in Heavy-Metal-Kluft, nicht weiter zu stören. „Na, dann legen wir los!“ schrie er erneut ins Mikro, doch bevor der Schlagzeuger, ein zotteliger Bär, der „das Tier“ aus der Muppetshow wie einen Abklatsch aussehen ließ, einzählen konnte, meldete sich aus dem hinteren Teil der Kneipe ein Gast lauthals zu Worte, der in Lederjacke und Jeans aussah wie ein typischer altlinker Studienrat: „Moment! Erstmal sind wir Genossinnen und Genossen, und nicht Leute, und außerdem ist es nicht demokratisch-sozialistisch, wenn Ihr hier ohne Basisbefragung einfach bestimmt, was ihr spielt. Das ist doch der Beginn der kapitalistischen Unterjochung, denn...grmpf“. Die beiden Wirte hatten gemeinsam mit einigen der Billard spielenden Punks den Störenfried unter dem Beifall der Gäste zum Schweigen gebracht. Er durfte den den weiteren Abend gefesselt auf einem Stuhl verbringen, mit einem Spezialbewacher, der ihm jedes Mal Bier einflößte, wenn er wieder den Mund aufmachte.

Die BAND konnte nun anfangen, ca. 20 Zuhörer standen direkt vor der Bühne und lauschten dieser Mixtur aus Covern klassischer Rocksongs, Ton-Steine-Scherben Varianten und eigenen Liedern, die sich vor allem durch Textanleihen aus Arbeiterlyrik und starken Bass- und Schlagzeugelementen auszeichneten. Insgesamt etwas amteurhaft aber sehr unterhaltsam, und das offenbar sehr textsichere Publikum wurde mit Dauer des Konzerts immer lauter. Es gab zwischen den Liedern selbstverständlich weiter Kommentare wie „Die waren auch schon mal besser!“ oder „das konnten sie gestern schon nicht und heute noch weniger“, aber insgesamt schien die Atmosphäre ganz gut zu sein. Ich wandte mich an Jens, um noch was zu trinken zu bestellen. „Wie oft spielen die hier?“ fragte ich ihn, und er schaute mich etwas verzweifelt an. „Jeden Abend. Jeden Abend die gleichen Lieder, ich kann es nicht mehr hören. Aber wenn wir sie nicht spielen lassen, verlieren wir die Hälfte unserer Kunden. Kurz nach Mitternacht ist Schluss mit dem Konzert, und Du siehst ja, es wird immer voller. Die Leute kommen für die letzten beiden Songs - man gut, dat is bald vorbei!“ Der Timemaster schaute auch ziemlich genervt drein, während er einer ziemlich alternativ gekleideten Frau in grüner Lederjacke erklärte, dass sie auch in sozialistischen Pubs für das Bier zahlen müsse. Dafür sei das Bier aber deutlich billiger als sonstwo.

Ich wandte mich wieder dem Konzert zu, das „Tier“ am Schlagzeug drehte gerade richtig auf, während das Publikum immer lauter einen Song namens „Worker‘s Welfare“ und die Internationale forderten.

Plötzlich wurde die Tür weit geöffnet, und zwei Punks schoben einen ca. 90 jährigen Mann in einem Rollstuhl in die Kneipe. Er wurde von den Umstehenden mit einem Kopfnicken begrüßt, während er mit seinem Stock auf den Boden schlug. Es war jetzt kurz vor Mitternacht, die BAND machte eine theatralische Pause und der Sänger versuchte die Stimmung anzuheizen, in dem er das Publikum fragte, was sie hören wollten. Statt begeisterten Rufen bekam er aber nun lediglich Sachen zu hören wie „Das weißt Du doch!“, „Das gleiche wie gestern - und vorgestern - und ...“ oder „laß den Quatsch und spielt endlich weiter“. Etwas konsterniert blickte der Sänger in die Runde, der Bassist zuckte mit den Schultern und begann mit den ersten Takten von „Worker‘s Welfare“. Die gesamte Kneipe sang mit, nur ich und ein paar Studenten an einem Tisch hinter mir schienen neu zu sein und kannten den Text daher nicht. Der Jester stand nun wieder auf dem Tresen und vollführte einen aberwitzigen Tanz, während ich versuchte, halbwegs zu verstehen, was da nun gegrölt wurde. Es schien ein nostalgischer Klassenkampfsong zu sein, ich verstand Fetzen wie „We are the Worker‘s Welfare, we are here for you“, „united in our struggle for justice, we take from the rich and give to the poor“ oder „free the people from slavery, cause we are slaves of money and greed“. Genau war das alles nicht zu verstehen, aber offenbar war es so etwas wie der Erkennungssong der BAND. Ich sah einige Leute, die sogar Tränen in den Augen hatten, darunter auch der mittlerweile wieder freigelassene Studienrattyp in seiner Lederjacke.

Am Ende des Liedes nahmen alle ihre Gläser, die letzten Töne klangen aus, es wurde still im Raum. Der Timemaster dimmte das Licht noch weiter, und der Sänger hauchte ins Mikro: „Kurt, warum sind wir hier?“ Der Alte im Rollstuhl erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und krächzte: „Aus Respekt vor den Leidenden, den Gefallenen, all jenen, denen Unrecht widerfährt, die Ausgebeutet werden. Mögen wir Ihnen bald Gerechtigkeit widerfahren lassen und das kapitalistische Elend beenden! Hoch die Internationale Solidarität“ Da erhoben alle ihre Gläser, tranken auf die Internationale Solidarität, und die BAND spielte „die Internationale“. Jeder sang mit, ich auch, man konnte sich nicht dagegen wehren, und am Ende des Liedes waren alle auf den Beinen, nickten sich zu, klatschten sich ab. Das Konzert war beendet, und ich setzte mich an einen Tisch mit den beiden Punks, die den alten Kurt hereingebracht hatten. „Ist das jeden Abend so?“ fragte ich sie. Der Kräftigere, der den Rollstuhl geschoben hatte, antwortete: „Ja, jeden Abend. Kurt hat als Jugendlicher im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Er ist so was wie ein Maskottchen hier - aber eigentlich kommt er jeden Abend nur deshalb runter, weil er vor Ende des Konzerts ohnehin nicht schlafen kann.“ Er grinste. Sein Kumpel ergänzte: „Meines Wissens geht hier nie jemand in der Gegend vor Mitternacht ins Bett, das Gegröle ist einfach zu laut und übertönt jede noch so schwachsinnige Volksmusiksendung um Längen. Hehe“ Sie schauten zu Kurt, der offenbar ins Bett wollte, und standen auf. Ich ging zurück an den Tresen und zu meinem Kaffee, war noch zu aufgewühlt, um nach Hause zu gehen.
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