4
Jun
2010

Jester‘s Door : Ankunft des Narren (2)

Ich hatte mir ein weiteres Bier bestellt, setzte mich zurück an den Tresen und schaute mich um. Die beiden schachspielenden Männer saßen immer noch vor ihrem Brett, jeder einen Becher Kaffee neben sich. Ich konnte wirklich nicht sagen, ob auch nur eine Figur auf dem Brett ihre Position verändert hatte, die beiden Männer schienen sich jedenfalls nicht zu regen. Ein paar Studentinnen saßen an einem anderen Tisch und diskutierten bei Kaffee und Wein über die postmoderne Literaturtheorie. Klang alles ziemlich halbwissend, aber na ja.

Mein Bier war inzwischen leer und ich brauchte mal eine Pause, drehte mich zu Jens und dem Timemaster um, die sich gerade über die weitere Musikauswahl für den Abend unterhielten. „Kann ich eine Tasse Kaffee haben und noch so eine gemischte Platte mit Häppchen?“ Sekunden später drehte sich Jens um und knallte mir einen großen Becher Kaffee mit der Aufschrift „Sex or Revolution? Why not having both?“ vor die Nase. „Tassen gibt‘s hier nicht, und ja, Kaffee wird hier grundsätzlich schwarz getrunken, wir haben zu viele Grufties als Kunden, die woll‘n wir nicht vergraulen!“ Ich schluckte. Ein Blick auf die Karte sagte mir, dass der Becher lediglich fünfzig Cents kostete, da konnte ich mich nun schlecht beschweren. Der Timemaster brachte mir auch schon den gemischten Snackteller. Ich fragte möglichst freundlich: „Nennen die sich noch Grufties? Ich dachte die heißen jetzt Goths?“ Das war ein schwerer Fehler. Jens explodierte fast: „Goths? Vertell hier nich so nen Blödsinn. Dat sind und bleiben Grufties. So nen modischen Neusprech lassen wir hier nich zu. Und jetzt mach den Kopp zu und trink Kaffee!“

Ich trank also brav den Kaffee, der in der Tat verdammt gut schmeckte, und wartete. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, eine merkwürdige Gestalt trat ein, die sich in einer Art Selbstgespräch selbst zu beschimpfen schien. Er trug ein schillernd grünes Sacko, Jeans, Turnschuhe sowie eine skurril anmutende Hornbrille. Leicht nach vorn übergebeugt lief er zunächst im Eingangsbereich der Kneipe hin und her, dann im Kreis, mit sich selbst im Dialog: „Nee, nee, nee, das darf doch nicht wahr sein! was für ein Idiot bist du eigentlich? Nur Arschlöcher, Ausbeuter, Blutsauger! Alles Wixer! Ich muss damit aufhören“ Dabei schüttelte er ständig seinen Kopf. Der Timemaster hatte in der Zwischenzeit drei frisch gezapfte Pints Guiness an einen bislang leeren Platz der Theke positioniert. Die Gestalt sah kurz auf, erblickte die Biere und steuerte zielstrebig auf die Theke zu, um im Hinsetzen bereits das erste Glas zu leeren.

Ich beugte mich zu Jens vor und flüsterte ungläubig: „Ist das etwa der Jester?“. Jens lächelte amüsiert und zwinkerte: „Jo, das isser. Leibhaftiger geht‘s nich“. Die anderen Gäste schienen sich nicht weiter für diesen Auftritt zu interessieren, offenbar geschah das tatsächlich regelmäßig. Ich betrachtete den Jester genauer, das zweite Glas war schon fast leer. Er bemerkte meinen Blick, musterte mich. „Neu hier?“ baffte er mich an. „Äh, jjaaa“ stammelte ich. Er nickte, leerte das Glas und griff sich das dritte Pint. „Beste Kneipe der Welt. Mein Refugium. Den Irrsinn außerhalb des Jester‘s Door ertrage ich kaum noch, ich brauche immer drei Bier, bevor ich mich beruhigt habe.“ Ich nickte. „Ah, ok, verstehe“ - dabei verstand ich gar nichts. Der Timemaster beugte sich zu mir vor und flüsterte: „Der Jester ist in der Werbebranche, aber eigentlich Sozialist im Herzen. Der hält den inneren Widerspruch nich aus, aber dat wirste schon noch zu hören bekommen.“ Ich bestellte mir einen weiteren Kaffee.

Dann begann der Jester wieder zu reden, halb mit mir, halb mit sich selbst. Er redete und trank in einer unglaublichen Geschwindigkeit, stoßweise schluckte er das Bier herunter. „Ich verkaufe meine Seele, jeden Tag. Ich mache Werbung für Medikamente, Versicherungen, Banken - nenne etwas Böses, ich bewerbe es!“. Er wurde bei seiner Tirade beinahe hysterisch. „Ich lege Ihnen Werbeanzeigen vor, die sie entlarven, enttarnen sollen - und sie finden sie großartig! Das spreche ein junges und aufgeklärtes Publikum an. Nein, nein, selbst die Wahrheit ist zu nichts anderem als Unterhaltung verkommen. Traurig, traurig.“ Er wurde still, schaute in sein Glas, leerte es, der Timemaster war sofort mit einem neuen Glas zur Stelle. Ich fragte ihn direkt, wieso sie ihn denn denn „Jester“ und nicht Narren nannten? Er lächelte: „Eigentlich begann es mit meiner Leidenschaft für Marillion. Die haben auf ihren ersten Plattencovern immer eine Narrenkappe drauf gehabt. Na ja, und im Moment fühle ich mich auch wie ein Hofnarr der Wirtschaft - und die Werbung spricht ja eh englisch.“ Er seufzte. „nee, nee, nee, das ist all das Geld nicht wert. Ich schäme mich dafür. Ich vertrinke den größten Teil meines Geldes hier, als Selbstgeißelung - und weil ich so das letzte bißchen Heimat erhalte“ Er brummte vor sich hin, Jens und der Timemaster schüttelten mit dem Kopf und arbeiteten weiter.

Ich drehte mich um, mittlerweile schwirrte mir der Kopf. Die Kneipe hatte sich gefüllt. Ich fragte Jens, ob es noch Livemusik geben würde. „Jo, gibt es. Jeden Abend. Immer dieselbe.“ Ich schaute ihn etwas verdutzt an: „Dieselbe?“ fragte ich nach. Der Timemaster klärte mich auf: „Wir haben hier die BAND. Was besseres gibt es nich, und was anderes könnten wir uns och nich leisten. Ab und an bringen die mal Freunde mit, aber mehr zum Jammen.“ Aha, dachte ich bei mir. Hier wunderte mich gar nichts mehr. Plötzlich sprang der Jester auf, kletterte auf den Tresen und rief: „Genossen und Genossinnen, die nächste Runde geht auf mich! Seht es als Buße für meine kapitalistischen Sünden..“ Mit gesenktem Kopf stand er da, während alles zur Theke stürmte. Mit erstaunlicher Gelassenheit fertigten Jens und der Timemaster die Freirunde ab. Dann wechselte der Timemaster die Musik, es erklang „Script for a Jester‘s Tear“, wie ich später erfuhr, und prompt sang der Jester, mit Tränen in den Augen. Die anderen Stammgäste sammelten sich um ihn, und stimmten bei der Strophe „I act the role in classic style of a martyr carved with twisted smile; To bleed the lyric for this song to write the rites to right my wrongs; An epitaph to a broken dream to exorcise this silent scream; A scream that's borne from sorrow“ lauthals mit ein. Ein unheimlicher, trauriger und mitfühlender Chorus, der in einem lauten „Hail the Jester“ endete. Alle hoben das Glas und prosteten sich zu.

Der Jester wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stieg von der Theke runter, die anderen Gäste nahmen langsam wieder Platz. Ich fragte den Timemaster, ob das jeden Abend so sei? „Nee, heute geht‘s ihm besonders schlecht. Passiert so ein- bis zweimal die Woche. Da hilft dann nur sein Lied“. Hmm, nach dem Auftritt war ich auf die BAND doch sehr gespannt. Waren die Verrücktheiten noch zu Steigern? Ich nahm mir noch einen Kaffee, und der Jester trank und trank...
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