13
Okt
2011

Geht es wieder los?

Ein Zug, in der Dunkelheit, grelles Licht, müde Menschen: Der Montagmorgen in einem Pendlerzug, leere Augen blicken in Erwartung einer frustrierenden Arbeitswoche jetzt schon erschöpft in die Welt. Es ist Herbst, und die Schwärze der Landschaft passt zur Gemütslage. Denn es geht wieder los. Wir sind da, wo wir vor 3 Jahren waren, vor der großen Bankkrise. Erneut sieht man die Nachrichten und fragt sich, ob die Läden am nächsten Tag wohl noch aufmachen und ob die Löhne wohl nächsten Monat noch überwiesen werden. Was muss noch passieren, damit endlich begriffen wird, dass dieses Wirtschaftssystem am Ende ist?

Ja, es wurde versäumt regulierende Maßnahmen zu ergreifen. Aber hätten sie gereicht? Müsste sich die Welt nicht viel grundlegender verändern? Was soll noch passieren, wie viele Existenzen müssen noch vernichtet werden? Wann sieht man endlich ein, dass die blanke Gier, der „freie“ Markt tatsächlich nicht geeignet sind, menschliche Gesellschaften zu organisieren? Während händeringend nach kurzfristigen Lösungen gesucht wird, stellt sich kaum jemand die Frage, wie es denn langfristig weitergehen soll. Ein Rohr zu reparieren hilft nicht, wenn das Wasserwerk marode ist.

Leider gibt es kein neues, und der Zusammenbruch des Kommunismus hat den Verfall des westlichen Wirtschaftssystems noch beschleunigt. Denn die Zeichen standen schon an der Wand, und wir trauen uns seit langem nicht mehr, wirklich frei zu denken. So wird sich nie wirklich etwas ändern, es bekommt nur einen anderen Anstrich. Insofern war die Eingangsfrage mal wieder falsch. Es geht nicht wieder los, nein, es hat nie aufgehört!

10
Sep
2011

Frischer Kaffee

Er steht vor mir, mein Lieblingsbecher, gefüllt mit frischem dampfendem Kaffee, schwarz und stark. Kaffeezeit. Schreibzeit. So viele Texte sind liegen geblieben, in einer viel zu langen Sommerpause. Naja, besser gesagt: Regenpause. Aber ich will mich nicht beschweren, ich habe Kaffee, jede Menge Ideen und vorbereitete Texte. Das Jester's Door wartet auf eine Fortsetzung, und der Kapitalismus steht jeden Tag vor dem endgültigen Zusammenbruch und diese unselige Bundesregierung liegt schon seit Monaten auf der Intensivstation. Es gibt also genügend Gründe, positiv in die Zukunft zu blicken, und sich einfach auf die nächsten Blogs zu freuen. Morgen kommt der nächste, also viel Spaß, der Herbst wird spannend.

20
Mai
2011

Gestrandet

Widerwillig betrat ich das Café, eine jener Kaffeeketten, die man eigentlich nicht betreten sollte. Aber sie haben freies Internet, ein eindeutiger Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Merke: Ein Café ohne WLAN eröffnen ist heutzutage eine Scheissidee. Nun gut, ich begebe mich also mit schlechtem Gewissen in den Laden, der Kaffee ist dann auch nur halb so schlecht, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich blicke aus dem Fenster auf die Mönckebergstraße, folglich muss ich gerade auf Zwischenhalt in Hamburg sein. Ich erinnere mich dunkel, habe vor einigen Minuten meine Einkäufe erledigt, nun habe ich Zeit. Wie so oft auf Reisen, Zeit am falschen Ort, würde lieber Richtung Heimat fahren, ankommen, endlich ankommen.

Dabei geht es immer weiter, stets war das Ankommen nur ein Zwischenstopp, meine Gedanken schon immer halb am nächsten Ort, selten waren Raum und Zeit eine Einheit. Mein Geist bereitete schon seit Stunden alles vor, was es nach der Ankunft zu erledigen gab, mein Körper war gefangen, auf der Reise, er fuhr quasi meinen Gedanken hinterher. Eigentlich ein Unsinn, sich nie auf das zu konzentrieren, was gerade vor einem lag, es zu geniessen. Gut, das Reisen selbst war zumeist nicht sonderlich genussreich. Trotzdem gab es diese Momente, wenn ich mich darauf besann, dass ich in diesem Zug saß oder in diesem Augenblick hier, in diesem Café, dass man strandete, irgendwo im Strom von Raum und Zeit, plötzlich bei sich war, ganz und gar eine Einheit bildete. Und Godot mich für eine kurze Sekunde anlächelte,, um hinter den Wolken zu verschwinden.

War das nicht das wahre Glück, einfach mal ganz bei sich zu sein, zu schreiben, sich zu besinnen? Ich weiß es nicht, aber zu selten sind diese Augenblicke zu kosten, wenn man allein ist, allein in der Welt, allein im Café, mit einem anderen Menschen, einem Freund, einer Geliebten, allein in der Nacht, wenn ich in einem Zug durch Europa rolle, nur die Musik meine Seele erfüllt, sie streichelt. Dann bin ich ein Teil der Nacht, die Musik ein Teil von mir und die Welt ist in diesem Moment gefangen. Wie ich sie jetzt einzufangen suche, in diesen Texten, nur einen Hauch dieser Ruhe, die mich zu selten umfängt. Denn ich weiß, diese Momente gehen zu schnell vorbei, sie sind flüchtig. Wir schauen stets in die Zukunft, übersehen die Gegenwart und arbeiten in der Vergangenheit. Ich weiß, wenn ich diesen Text geschrieben habe, bin ich wieder in der Zukunft, im Geiste. Und mein Körper läuft hinterher. Bis ich ankomme. Für einen winzigen Moment. Gestrandet. Im Irgendwo.

5
Mai
2011

Jester's Door: "Art"gerecht

Es war wieder einer jener Abende, an denen im Jester's Door wieder alles drunter und drüber ging. Ich hatte mich mit meinem Kaffee zu Lisa gesetzt, einer Philosophiestudentin im 23. Semester, die ihre Magisterarbeit zum Thema "Philosophische Grundlagen der postmodernen Demokratie im Lichte einer kapitalistisch-marktorientierten Medienlandschaft: Herrschen die Medien durch das Volk?" schrieb. Sie recherchierte bereits seit zwei Jahren, und die Tatsache, dass sie jeden Abend im Jester's Door weitere abstruse Anregungen bekam, trug nicht gerade zum Fortschritt des Projekts bei. Ich hatte ihr gerade geraten, einfach mal anzufangen und sich zur Prüfung zu melden, als sich eine Gruppe von ca. 10 Leuten am Tresen versammelte. Sie gingen nach kurzer Begrüßung wild diskutierend von Wand zu Wand und wedelten mit den Armen herum, während Jens und der Timemaster stets und völlig stoisch mit dem Kopf schüttelten. Offenbar wurden irgendwelche Vorschläge zum Umbau oder zur Neudekoration der Kneipe gemacht, und die beiden Kneipiers waren davon gar nicht begeistert.

Ich fragte Lisa, ob sie was mit diesem Auftritt anfangen konnte. "Die drei da vorne sind Künstler, kommen wohl ursprünglich aus diesem Viertel hier. Der eine malt so stilisierte Gemälde, die an den sozialistischen Realismus erinnern. Der andere macht irgendwas mit Graffiti, vielleicht soll das ne Koproduktion werden." Sie machte eine Pause. "Vom dritten weiß ich es nicht genau". Ich nickte. Das würde weder Jens noch dem Timemaster schmecken, wenn verkopfte Künstler ihre Kneipe verunstalteten. Ich nickte Lisa zu, nahm meinen Kaffee, und stellte mich zu der Truppe. Einer der Künstler erklärte in seinem seit Wochen nicht gewechselten Hemd, wie ein vier Meter hohes Porträt eines verfremdeten Moorsoldaten dem Raum eine andere Bedeutung geben würde. Der Timemaster schaute zu Boden, und Jens sagte barsch: "Das klingt ganz toll, wirklich, aber die Leute wollen in eine Kneipe, und nicht ins Moor!"

Ich stellte mich neben den Timemaster. Der guckte mich leicht verzweifelt an und flüsterte mir zu: "Dat hat uns der Jester eingebrockt. Irgendeine Vernissage, und der meint zu denen, das Jester's Door könnte auch mal mehr Kunst vertragen. Is ja nett, aber nun müssen wir sehen, wie wir da wieder rauskommen." Ich grinste. Ja, ja, der Jester. Wohl mal wieder zum Wein statt zum Bier gegriffen bei der Vernissage, dann wurde der immer unberechenbar. Ich schaute in den Nebenraum, wo ein paar Punks dem hektischen Treiben zusahen. Ich hatte eine Idee, zupfte dem Timemaster am Ärmel und nahm ihn und Jens für einen Moment beiseite. Beide überlegten kurz, um dann leicht missmutig zu nicken.

Kurz darauf führten die beiden Wirte den Trupp in den angrenzenden Billardraum, und nach kurzer Diskussion und der unwilligen Zustimmung der Punks kam man überein, an der ziemlich abgearbeiteten Rückwand des Raumes ein Kunstprojekt zu starten. Es sollte eine Art Kunstworkshop mit den Punks stattfinden, unter denen sich auch der eine oder andere Sprayer befand, und sehr zum Leidwesen der drei Künstler bereits um 10 Uhr morgens begann, damit wenigstens ein paar Stunden noch im nüchternen Zustand gearbeitet werden konnte. Alle waren halbwegs zufrieden, auf das Ergebnis war ich jetzt schon gespannt, die BAND begann zu spielen, und am Schachbrett war der ganze Trubel wie immer vorbeigegangen. Ich setzte mich wieder zu Lisa und blieb für diesen Abend beim Kaffee, weil ich mich ausnahmsweise mal nicht lächerlich machen wollte.

27
Apr
2011

Geschichte - eine missratene Satire

Geschichte. Ich rede von der SPD. Die SPD, das war mal eine Partei, heute ist sie vor allem Geschichte. Einst war es eine schöne Geschichte, da war diese Partei so etwas wie ein politisches Robin-Hood-Syndrom: Man nahm den Reichen ein bisschen weg, machte das Leben der Armen etwas erträglicher, die einfachen Leute freuten sich diebisch, und die Welt war für einen kurzen Augenblick in Ordnung. Da gab es Helden, mutige Recken, die nannten sich Abgeordnete oder waren Parteifunktionäre, die legten sich mit den Starken an, mit Industriebossen oder Bankiers, die stimmten gegen Ermächtigungsgesetze, ertrugen Verfolgung und Haft. Das ist heute nicht mehr zu fürchten, denn die Sozialdemokraten werden schon lange nicht mehr gefürchtet. Zu unterwürfig sind sie, zu sehr bemühen sie sich, die "Mitte" zu besetzen, dabei liegt ihre Aufgabe nicht links, rechts oder mittig - sie liegt unten. Doch die SPD hat im Wirrwarr neoliberaler Managementvokabeln den Sinn ihrer Existenz vergessen. So wurde sie zu einer Geschichte der Eitelkeiten, der vergessenen Ideale, der orientierungslosen Taktiererei.

Statt eine Politik zu machen, die den Schwachen hilft, die "unten" sind, redeten Sozialdemokraten plötzlich von Chancengerechtigkeit, zementierten die Privilegien der Reichen, förderten private Vorsorgesysteme und verschlechterten die Situation von Arbeitslosen. Man nahm in Kauf, dass Menschen mit niedrigen und Mittleren Einkommen immer weniger Geld haben, während die hohen Einkommen immer weiter anwachsen. Doch die Bodenhaftung ist verloren gegangen, denn wer in dieser Partei versteht sich noch als Vertreter dieser Menschen, wer fühlt sich wirklich mit ihnen verbunden? Materiell geht es Abgeordneten gut, viele kennen soziale Notlagen offenbar nur aus dem Fernsehen. Der Kompass ist verloren gegangen. Die Sarrazin-Affäre ist ein weiterer Beleg dafür. Diese Unperson symbolisiert alles, was in Deutschland und der SPD falsch läuft. Er ist als ehemaliger Berliner Finanzsenator und ehemaliger Bundsbankvorstand Bestandteil der gesellschaftlichen wie parteiinternen Elite. Eine Elite, die losgelöst von den realen Problemen der Menschen - und dazu gehört auch die Basis der SPD - dahinvegetiert. Eine Elite, die die Leistungen und die Arbeit anderer sozialer Schichten nicht mehr respektiert. Wenn es die SPD toleriert, dass ein ehemals führendes Mitglied sich durch im Kern rassistische Äußerungen zum Sprachrohr fremdenfeindlicher Stimmungen macht, diese sogar anheizt, Menschen aufgrund ihrer Herkunft per se als dumm bezeichnet, dann verrät sie alles, wofür die Partei je gestanden hat. Für Solidarität. Für Toleranz. Für Gerechtigkeit. Nein, in dieser Sache hätte es kein taktisches Manöver geben dürfen. Denn im Falschen gibt es kein Richtiges. Das hätte schon die Lektion der Schröder-Jahre für die SPD sein können. Sarrazin zeigt, dass die SPD aus der Geschichte nicht gelernt hat. Sie wird lieber selbst Geschichte. Eine traurige Geschichte. Sollte sie tatsächlich im Verrat an ihren Helden von einst enden? Was wird dann von dieser Geschichte übrig bleiben?

"Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus." Otto Wels, 23.März 1933

Eigentlich sollte dieser Text eine Satire werden, doch beim Schreiben blieb das Lachen auf der Strecke.

21
Apr
2011

Jester's Door: Abgerechnet

Das Jahr der Abrechnungen. So würde 2011 in die Annalen eingehen. Nach drei Monaten waren welt- und innenpolitische Rechnungen in großem Umfang präsentiert worden, und er saß auf seinem Stammplatz im Jester's Door und schaute auf seine persönliche Abrechnung: den Deckel. Der war in den letzten Monaten enorm angewachsen, seitdem ihm diese skurrile Kneipe zur zweiten Heimat geworden war. Wie viele Becher Kaffee, wie viel Bier und Rotwein hatte er hier getrunken? Es war eine eigene Welt, und sie war so anders als dieses Elend da draußen, in der der Neid, die Gier regierten. Es war eine raue, herzliche Welt, den er hinter dem Spiegel, äh, hinter der Kneipenür vorfand. Auf nichts freute er sich mehr als auf diese Abende, Nachmittage oder im Zweifelsfall Tage, die er im Jester's Door verbrachte.

Vor ihm lag die Zeitung, und er war gerade wieder so weit nüchtern geworden, dass er sich mit der Welt außerhalb des Jester's wieder befassen konnte. Japan, Atomkraft, Nordafrika, die Themen der letzten Wochen drohten ihm aus den Überschriften der Titelseite, er seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und schaute sich um. Der Timemaster stellte gerade wieder die Uhr, da eine Sitzung des neugegründeten Arbeitskreises "Sklaverei abschaffen - auch in Deutschland!" beginnen sollte. Eine Gruppe von Dauerpraktikanten Mitte 40, drei mies bezahlte Texterinnen und einige resignierte Arbeitslose hatten sich bereits um die Thermoskannen am Versammlungstisch eingefunden. Eine Arbeitslose berichtete den Gesinnungsgenossen, dass sie Vormittags noch an einem entwürdigenden Bewerbungsinformationsgespräch teilgenommen hätte, bei dem sie zur Annahme eines unterbezahlten Jobs in einem Outbound-Callcenter gedrängt worden war.

Ich wollte mich erst später dazu setzen, die meisten von den Teilnehmenden kannte ich bereits und in der ersten Stunde kotzten sich die meisten erst einmal aus, über Arbeitgeber, Arbeitsagentur, Kunden, Gewerkschaften, etc. Ich schaute unterdessen zum Timemaster und Jens rüber. Hatten die überhaupt geschlafen? Ich hatte die gesamte Nacht, den Morgen und den Nachmittag hier verbracht. Keiner von ihnen hatte in dieser Zeit geschlafen - obwohl ich mir nicht ganz sicher war, denn die Erinnerung zwischen Mitternacht und Mittag war doch eher verschwommen. Um ehrlich zu sein, ich konnte mich häufig nicht an das erinnern, was nach der Internationalen im Jester's Door passierte. Zu viel Rotwein, verwischte Erinnerungen an revolutionäre Ideen, ein Jester, die BAND, die irgendwann den Jester selbst ans Mikrofon ließ. Eher schemenhafte Schatten langer Nächte. Ich fühlte mich plötzlich so unendlich müde.

Ich ging zm Timemaster rüber und beglich meinen Deckel. "Werde mal nach Hause. Das Bett ruft schon 'ne Weile." Er nickte. "Kein Problem. Aber denk' dran: Morgen Abend is die Soliaktion für den türkischen Laden, der von den Skins abgefackelt wurde. Wenn Du nich kömmst, dann gibt's ne Zwangsspende auf Deinem Deckel!" Ich grinste, nickte ihm zu, und ging rüber zum Arbeitskreis. Die waren noch beim allgemeinen Auskotzen, einer der mir unbekannten Dauerpraktikanten erklärte gerade, sein Chef habe ihm erklärt, nach 5 Jahren Praktikum sei er noch nicht erfahren genug, um einen festen Job zu bekommen. Ich schüttelte mit dem Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "Kündige oder du wirst als Prakti sterben, Du hast die Wahl!" Zustimmendes Gemurmel, ich grüßte zum Abschied und ging zum Ausgang. Aus dem Augenwinkel glaubte ich eine Bewegung am Schachbrett wahrgenommen zu haben. Aber das war wohl nur eine Illusion, denn die beiden Spieler würden wohl nie zum Ende kommen. Oder abrechnen.

16
Apr
2011

Der verratene Traum

Traurige Augen sehen in die Kamera, starre Blicke müder Gestalten in einem italienischen Flüchtlingslager. Libyer, Tunesier, Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind oder die erkämpfte Freiheit nutzen wollen, um sich eine Existenz zu schaffen. Während Europäische Außenminister sich in Ägypten als Botschafter einer neuen, freien Gesellschaft feiern lassen, entwürdigen wir all die Menschen, die unsere Versprechungen, unsere Verheißungen ernst nehmen. Italien, Mitglied der G8!, ist plötzlich nicht in der Lage, ein paar tausend Flüchtlinge zu versorgen. Mal ganz abgesehen davon, dass es seit Jahren die auf europäischer Ebene gültigen Standards für die Aufnahme von Flüchtlingen sowie der Asylverfahren missachtet. Der deutsche Innenminister hat dann auch nichts anderes zu tun, als vor einer Überflutung durch nordafrikanische Flüchtlinge zu warnen und will die Grenzkontrollen wieder aufnehmen. Die Regierungen geraten in hysterische Panik, der eigene Wohlstand scheint in Gefahr. Keine Zahl belegt das, das populistische Schüren unbegründeter Ängste ist schon lange an die Stelle von rationalen Debatten getreten. Europa, diese Insel der Glückseligkeit, verspricht viel und hält wenig.

Der Zuschauer dieser traurigen und zugleich beschämenden Veranstaltung fragen sich kopfschüttelnd, warum sich die vermeintlich reichste Region der Welt so billig aus dem Staub macht. Statt humanitäre Hilfe zu leisten, Menschen beim Aufbau ihrer neuen Gesellschaftsordnung, ihrer neuen Existenz zur Seite zu stehen, schicken wir in als erstes Polizeikräfte entgegen, die uns diese Hoffnungsvollen Hilfesuchenden vom Leibe halten. Eine schamlose Politik, die nur auf Neid beruht und letztlich nur der Erhaltung des Wohlstandes weniger dient. So wird davon abgelenkt, dass Banken mit riesigen Steuersummen gerettet, explodierende Managergehälter abgesichert und wachsende Unternehmensgewinne nicht angetastet werden. Auf dem Rücken der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Niedriglohnsektor, von Sozialleistungsempfangenden, von stagnierenden oder gar sinkenden Reallöhnen wächst der Reichtum weniger gnadenlos an. Und nun kommen die Revolutionen in Nordafrika, und während sich die Vorbilddemokratien in Europa noch fragen, ob Volksherrschaften in Tunesien, Ägypten oder gar in den Öl-Staaten Arabiens wirklich im Interesse der Herrschenden in Europa sind, machen sich ein paar tausend Afrikaner auf den Weg nach Europa. Eine willkommene Gelegenheit für die europäischen Innenminister, Flüchtlinge gegen verarmte Europäer auszuspielen, Härte zu zeigen, mit der Angst vor dem Islam Meinung zu machen. Man muss sich wundern, dass wir vor dieser Politik nicht selbst fliehen - oder sie beenden. Im Gegensatz zu Nordafrika sind dazu in Europa nicht einmal Revolutionen nötig. Wir müssen nicht einmal so mutig sein, wie viele der Menschen in Lampedusa, die so entwürdigt in die Kameras europäischer Fernsehsender blicken, die das Mittelmeer in Nussschalen überwunden und gegen Diktaturen gekämpft haben. Wenn wir weiter nur von einem besseren Europa träumen, werden wir nur weiter enttäuscht aufwachen: "Der Traum ist aus. Aber ich werde alles geben, daß er Wirklichkeit wird."

"Gibt es ein Land auf der Erde,
Wo dieser Traum Wirklichkeit ist?"

28
Mrz
2011

Nachtschicht

"Nachts um halb zwei, wenn die Dunkelheit Deine Seele befreit", dachte ich bei mir und summte ein Lied vor mich hin. Es war dieses süße Gefühl, allein mit mir am Schreibtisch zu sein. Ich und die Tastatur. Wie sehr die Nacht doch die Welt veränderte: Am Tage die Folter des weißen Blattes, in der Nacht der angenehme Rausch des kreativen Genies. So flossen die Zeilen dahin, etwas Hintergrundmusik, irgendwo in der Nachbarschaft Geschlechtsverkehr, mittellaut, ab und an die Sirenen eines vorbeifahrenden Notarztwagens, sonst war Ruhe. Ich ging auf im Schreiben, Sein und Handeln waren eins. So saß ich da und schrieb, unterbrochen nur von der einen oder anderen Tasse Kaffee. Ein Kapitel später stand ich am Fenster und blickte auf die wenigen Lichter der Stadt, in den Park. Wie inspirierend und beruhigend ist doch alles, was ich nicht sehen kann. Dieses Gefühl der Ruhe, des Friedens dürfte nie vorübergehen. Warum musste es Nacht werden, bevor ich in Ruhe arbeiten konnte? Ich wusste es nicht, genoss den heißen Kaffee und schrieb völlig furchtlos weiter.

Da klingelte das Telefon. Eine Freundin, ich schaute auf die Uhr, es war 2:12 Uhr . Wie so oft hörte ich mir ruhig ihre Probleme an. Sie war mit irgendeinem Bernd im Bett gelandet, sie wollte mehr, er nicht. Sehr überraschend. Das ging mindestens einmal die Woche so, natürlich nicht mit dem gleichen Bernd, es konnte auch mal ein vermeintlicher Dieter sein. Diese Anrufe waren normalerweise schwer zu ertragen, denn ich wäre schon seit einiger Zeit gern ein solcher Bernd gewesen, auch für mehr als eine Nacht. Ich war mir sicher, dass sie das wusste, was doch stark an meinem animalisch-männlichen Ego nagte. Ich stand ihr trotzdem bei, spendete Trost. Was ich so mache. Bei jedem, Tag und Nacht, ich heitere Menschen auf und nahm ihnen ihre Sorgen - und legte sie in meinem Inneren ab. Ich war ein Narr. Aber heute Nacht war es anders. Ihre Sorgen gab ich an die Schatten in den Ecken weiter, ließ sie dort, nahm ihren Dank an und legte auf. Beschwingt lehnte ich am Fensterrahmen, "und ich hab' wieder nich', die Welt gerettet" klang es aus den Boxen. Lächelnd sagte ich zu mir: "Ich auch nicht. Ätsch". Ich war mit mir im Reinen. Bis zum Sonnenaufgang, wenn die Lasten der Welt sich wieder auf meine Schultern senken würden. Das war narrensicher.

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Auszug aus "Narrensache"
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