21
Apr
2011

Jester's Door: Abgerechnet

Das Jahr der Abrechnungen. So würde 2011 in die Annalen eingehen. Nach drei Monaten waren welt- und innenpolitische Rechnungen in großem Umfang präsentiert worden, und er saß auf seinem Stammplatz im Jester's Door und schaute auf seine persönliche Abrechnung: den Deckel. Der war in den letzten Monaten enorm angewachsen, seitdem ihm diese skurrile Kneipe zur zweiten Heimat geworden war. Wie viele Becher Kaffee, wie viel Bier und Rotwein hatte er hier getrunken? Es war eine eigene Welt, und sie war so anders als dieses Elend da draußen, in der der Neid, die Gier regierten. Es war eine raue, herzliche Welt, den er hinter dem Spiegel, äh, hinter der Kneipenür vorfand. Auf nichts freute er sich mehr als auf diese Abende, Nachmittage oder im Zweifelsfall Tage, die er im Jester's Door verbrachte.

Vor ihm lag die Zeitung, und er war gerade wieder so weit nüchtern geworden, dass er sich mit der Welt außerhalb des Jester's wieder befassen konnte. Japan, Atomkraft, Nordafrika, die Themen der letzten Wochen drohten ihm aus den Überschriften der Titelseite, er seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und schaute sich um. Der Timemaster stellte gerade wieder die Uhr, da eine Sitzung des neugegründeten Arbeitskreises "Sklaverei abschaffen - auch in Deutschland!" beginnen sollte. Eine Gruppe von Dauerpraktikanten Mitte 40, drei mies bezahlte Texterinnen und einige resignierte Arbeitslose hatten sich bereits um die Thermoskannen am Versammlungstisch eingefunden. Eine Arbeitslose berichtete den Gesinnungsgenossen, dass sie Vormittags noch an einem entwürdigenden Bewerbungsinformationsgespräch teilgenommen hätte, bei dem sie zur Annahme eines unterbezahlten Jobs in einem Outbound-Callcenter gedrängt worden war.

Ich wollte mich erst später dazu setzen, die meisten von den Teilnehmenden kannte ich bereits und in der ersten Stunde kotzten sich die meisten erst einmal aus, über Arbeitgeber, Arbeitsagentur, Kunden, Gewerkschaften, etc. Ich schaute unterdessen zum Timemaster und Jens rüber. Hatten die überhaupt geschlafen? Ich hatte die gesamte Nacht, den Morgen und den Nachmittag hier verbracht. Keiner von ihnen hatte in dieser Zeit geschlafen - obwohl ich mir nicht ganz sicher war, denn die Erinnerung zwischen Mitternacht und Mittag war doch eher verschwommen. Um ehrlich zu sein, ich konnte mich häufig nicht an das erinnern, was nach der Internationalen im Jester's Door passierte. Zu viel Rotwein, verwischte Erinnerungen an revolutionäre Ideen, ein Jester, die BAND, die irgendwann den Jester selbst ans Mikrofon ließ. Eher schemenhafte Schatten langer Nächte. Ich fühlte mich plötzlich so unendlich müde.

Ich ging zm Timemaster rüber und beglich meinen Deckel. "Werde mal nach Hause. Das Bett ruft schon 'ne Weile." Er nickte. "Kein Problem. Aber denk' dran: Morgen Abend is die Soliaktion für den türkischen Laden, der von den Skins abgefackelt wurde. Wenn Du nich kömmst, dann gibt's ne Zwangsspende auf Deinem Deckel!" Ich grinste, nickte ihm zu, und ging rüber zum Arbeitskreis. Die waren noch beim allgemeinen Auskotzen, einer der mir unbekannten Dauerpraktikanten erklärte gerade, sein Chef habe ihm erklärt, nach 5 Jahren Praktikum sei er noch nicht erfahren genug, um einen festen Job zu bekommen. Ich schüttelte mit dem Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "Kündige oder du wirst als Prakti sterben, Du hast die Wahl!" Zustimmendes Gemurmel, ich grüßte zum Abschied und ging zum Ausgang. Aus dem Augenwinkel glaubte ich eine Bewegung am Schachbrett wahrgenommen zu haben. Aber das war wohl nur eine Illusion, denn die beiden Spieler würden wohl nie zum Ende kommen. Oder abrechnen.
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