15
Nov
2010

Abgelegt

Es hallt in meinem Kopf, immer wieder höre ich das Einhämmern auf die Tasten. Der Sachbearbeiter vor mir schaut mich nicht an, starrt nur auf seine Tastatur, in die er mühsam und mit größtmöglicher Krafteinwirkung einschlägt. Jede meiner Antworten wird eingegeben und krachend mit der Eingabetaste abgeschlossen. Die ganze Situation kommt mir unwirklich vor, wie durch einen Schleier nehme ich den Raum wahr, höre meine Stimme nur dumpf in meinem Kopf, wie unter Wasser.

Er fragt nach meiner Ausbildung, meiner Berufserfahrung, meinen Krankheiten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon hier sitze, ich kann mich nicht erinnern. Jetzt scheint die Fragerei ein Ende zu haben, der Sachbearbeiter starrt auf seinen Bildschirm, hat die Tastatur aus den Augen verloren. Seine Stirn verzieht sich, er drückt einen Knopf an seinem Telefon, innerhalb von Sekunden öffnet sich die Tür zum angrenzenden Büro. Eine Frau in einem eng geschnittenen Hosenanzug tritt ein, der Sachbearbeiter nickt in meine Richtung und sie weist mich an, ihr zu folgen. Auf Nachfrage wird mir erklärt, dass sie meinen Fall nun übernehmen werde. ich stehe auf, folge ihr. Ich fühle mich unsicher, die ganze Umgebung wirkt nach wie vor unwirklich, aber irgendwie bedrohlicher. Die Frau hat einen sehr strengen, geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck aufgesetzt - nein, sie hat ihn überhaupt nicht geändert.

Sie weist mir einen Stuhl zu, ich setze mich vor ihren Schreibtisch. Sie schaut mich an, während ein Drucker hinter ihr Papiere ausspuckt. "Sie sind ein Problemfall". Pause. "Mit Ihnen ist einfach nichts mehr anzufangen. In diesem Land braucht Sie niemand, und daher wird Ihnen auch keine Unterstützung gezahlt." Ihr Ton ist eher sachlich als vorwurfsvoll, ich bin eine reine Nebensächlichkeit. Ich schlucke, bevor ich widerspreche - immerhin habe ich einen Studienabschluss, bin immer aktiv gewesen und mir meiner Rechte sicher. Eigentlich.

Denn trotz meines Einspruchs lächelt die Mitarbeiterin der Arbeitsvermittlung nur gelangweilt, es treten zwei Männer in dunklen Anzügen ein, die sich neben mir postieren. Verunsichert schaue ich zu ihnen hoch, während sie in neutralem Ton erklärt: "Für Geisteswissenschaftler haben wir in dieser Gesellschaft keine Verwendung mehr, und schon gar nicht für Leute wie Sie, die auch noch Gerechtigkeit verlangen. Menschen, die keinen Reichtum erzeugen, brauchen wir hier nicht, und daher haben Sie auch keinen Anspruch darauf, dass wir Sie weiter dulden. Sie generieren kein Wachstum, Sie sind überflüssig. Seien Sie froh, dass wir Sie nun gratis entsorgen. Sie werden jetzt verschwinden, und wir werden dafür sorgen, dass niemand jemals nach Ihnen zu fragen wagt! Sie werden abgelegt, wie Ihre Akte. Einfach eine unbedeutende Ablage." Damit reissen mich die beiden Anzugsträger von dem Stuhl und zerren mich zum Hinterausgang des Gebäudes.

Ich bin zunächst zu schockiert, fassungslos, um mich wirklich zu wehren. Mein Gehirn kann diese Ungeheuerlichkeit nicht fassen, ich war in dieses Gebäude gekommen, um bescheiden um Hilfe zu bitten, und nun werde ich umgebracht, entsorgt, wie Müll. Panisch schlage ich um mich, schreie. Ein Schlag ins Genick, ein weiterer in den Magen, ich kämpfe wie von Sinnen. Ich spüre, wie meine Hand auf etwas Kaltes einschlägt, wache auf, fühle den kalten Boden unter mir, schweissnass. Ich wälze mich herum, bin völlig platt. Weiß nicht, wo ich bin. Panik, Angst. Ich erkenne nichts in der Dunkelheit. Langsam arbeite ich mich hoch, finde den Lichtschalter. Durchatmen, mein Schlafzimmer. Alles wie immer. Hatte ich das nur geträumt? Oder hatte ich eine Gedächtnislücke? Gehe zum Schreibtisch, versuche mich an den letzten Tag zu erinnern. Ein Blick auf den Terminkalender reicht, dort steht für heute, 11:30 Uhr: ARGE. Mir wird schlecht, ich zittere. Die Angst kehrt wieder. Jetzt real.
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