24
Dez
2010

Jester's Door Special: Der wirkliche oder nicht-weihnachtliche Heiligabend

Es war mal wieder das „danach“, das zwangsläufig die Frage „Was nun?“ aufwarf. Heiligabend. Wie jedes Jahr nach Familie, Festtagsbraten, Bescherung, also all den guten und schlechten Weihnachtsbräuchen, machte ich einen Spaziergang. Scheinbar ziellos. Doch dieses Jahr hatte ich ein Ziel, die Hoffnung, den vermutlich einzigen weihnachtsfreien Ort in dieser Stadt zu finden. Das Jester‘s Door.

Ich atmete noch einmal tief ein, bevor ich das Jester‘s Door betrat. Auf den ersten Blick bestätigte sich meine Hoffnung. Keine Spur von Weihnachtsdekoration, die BAND war beim Aufbauen. Hinter dem Tresen stand der Timemaster, der Jester hielt einem unbedarften Opfer einen Vortrag über Big Country, nur der Billardraum war komisch verhängt. Ich ging an den Tresen und bestellte ein Bier. „Na, auch ma‘ wieder hier? Zu Weihnachten kommst wieder angekrochen. Wünsch mir jetzt bloß kein Frohes Fest!“ wobei der Timemaster auf den Thorshammer deutete. Etwas zerknirscht nahm ich das Bier entgegen. „Was ist denn im Billardraum los?“ lenkte ich ab. „Dat is unsere Solidaraktion. Wir lassen die Obdachlosen unseres Viertels immer zwischen dem 21.Dezember und Neujahr hier übernachten. Dann bringen die Leute ihre alte Kleidung und Essen vorbei, und einigen besorgen wir in der Zeit auch einen Wohnplatz oder Arbeit. Die Sozialarbeiter haben für so wat ja kaum noch tid.“

Ich war ehrlich überrascht. Die meisten der Gäste des Jester‘s waren doch selbst kaum in der Lage sich über Wasser zu halten. Aber just in diesem Moment kam einer der Punks mit einer Ladung Kaffee unter dem Arm durch die Tür und gin in den Billardraum, wo er sonst um Autogramme obskurer Musiker spielte. Ich folgte ihm und sah mich um. Jens stand an einer Art Gulaschkanone und verteilte Suppe, ein pensionierter Lehrer half einem Obdachlosen beim Ausfüllen eines Formulars, und einige andere wärmten sich an der Heizung. „Moin, lang nicht gesehen. Die Spenden dose ist da drüben, und Du tust da gefälligst einen Schein rein, kloar?!“ wurde ich von Jens begrüßt. Solchermaßen instruiert spendete ich, unter Jens‘ Blicken dann auch einen zweiten Schein. „So ist‘s recht.“ grummelte er, und setzte frischen Kaffee auf. Am Kaffeeausschank erkannte ich den lokalen Abgeordneten. Jens raunzte mir zu: „Glotz nich, pack an. der Sozi da braucht noch Hilfe“ und deutete auf einen Studenten, der gerade Mettbrötchen schmierte.

Nachdem ich wenigstens dreizig Brötchen geschmiert hatte, ging ich zurück in den Barraum, denn die BAND begann ihr Konzert. Der etwas übernächtigt dreinblickende Bassist begann mit dem Intro, während der Rest von „The Worker‘s Voice“ düster ins Publikum blickten. Nach dem Eröffnungssong, der gleiche wie an jedem anderen Abend auch, gröhlte der Sänger ins Mikro: „Heute ist christliche Weihnacht. Der Tag der Heuchelei und der heilen Welt. Aber wir heucheln hier nicht. Wir spielen. Ehrliche Musik.“ Gegrummel im Publikum, vereinzelte Kommentare wie „naja“ oder „ehrlich und schlecht...“, die der Sänger ignorierte. „Also, weiter mit Arbeiterliedern“. So spulten sie ihr normales Ritual ab, mit den bekannten Höhepunkten „Worker‘s Welfare“ und dem mitternachtlichen Intonieren der Internationalen.

Erst danach änderte sich das Programm, der Jester wurde auf die Bühne gebeten. „Liebe Freunde, Genossen und Genossinnen, Kollegen und Kolleginnen, dies hier ist das Gegenprogramm zum Kommerz. Dem Kommerz des Weihnachtsfests, der Kommerzialisierung der Musik. Wir sind die Insel, die sich nicht kaufen läßt. Also: Da drüben sind die Leute, die unsere Solidarität brauchen, laßt uns Ihnen helfen!“ Dabei zog er seine Jacke aus, dann sein Hemd. „Seht, ich gebe mein Hemd für meine Mitmenschen. Und was verlange ich dafür?“ Die Leute lachten, denn die BAND spielte die ersten Töne von „Script for a Jester‘s Tear“. Der Jester sang das Lied, nach Jahren der Übung ziemlich gekonnt, während die anderen einen Sack rumgehen ließen, in den Geld, Klamotten oder ähnliches geworfen wurden.

Der Jester endete, mit Tränen in den Augen. Ich fragte ihn später, ob dies jedes Jahr zu Weihnachten so sei, und er antwortete: „Ja, es ist der einzige Abend im Jahr, an dem ich das Jester‘s Door verlasse und zufrieden einschlafe.“ Ich würde am nächsten morgen wieder kommen und noch einige alte Klamotten vorbeibringen. Einer der Obdachlosen sollte mir bei der Gelegenheit erzählen, wie dankbar er diesen Menschen sei, bevor er auf der Bühne alte Wikingersagen vorgetragen wurden. Weniger Weihnachten, mehr Jester‘s Door würde ich mir sagen.Keine Weihnachtsgeschichte, keine altehrwürdigen Rituale. Und doch hatte ich verstanden, worum es im Leben gehen sollte. Oder im Jester‘s Door ging. Jeden Tag. Nur anders.
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