10
Jan
2011

Jester's Door: Kneipenrevolutionäre

Ich saß mal wieder mit schwerem Kopf am Tresen des Jester's Door und trank einen Kaffee. Dieser Laden war wirklich zu einem Laster geworden - abends schmeckte das Bier zu gut, und morgens bzw. mittags oder wann immer man aufstand, gab es eindeutig den besten und günstigsten Kaffee der Stadt. So schüttete ich mir den dritten Becher hinein, während das dröhnende Hämmern in meinem Kopf langsam nachließ. Eigentlich wartete ich auf die Sitzung des am vorigen Abend ins Leben gerufenen "Arbeitskreis Sozialismus jetzt!", war mir aber nicht mehr ganz sicher, was wir damit beabsichtigt hatten. Naja, wir würden schon einen Grund finden.

Ich blickte mich um, und war der festen Überzeugung, dass sich auf dem Schachbrett etwas getan haben musste, auch wenn die beiden Spieler wie eh und je unbeweglich davor saßen. Ihre langen Bärte verrieten keine Regung. Auch sonst schien heute alles ein wenig anders zu sein, selbst die Punks waren noch nicht volltrunken und trafen beim Billard tatsächlich mal die richtigen Kugeln. Ein Typ namens Peter kam herein, auch einer dieser Stammkunden. Ein Freund des Jester‘s, der im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen über ein regelmäßiges Einkommen verfügte und daher von der Kleidung her sofort auffiel. Sie stammte eindeutig nicht aus einem Oxfamladen.

Soweit ich mich erinnern konnte, hatten wir bald alle Figuren zusammen, die sich die Einrichtung dieses Arbeitskreises ausgedacht hatten. Im wesentlichen waren es dieselben, die regelmäßig am sozialistischen Lesekreis Nord und anderen pseudorevolutionären Zusammenkünften im Jester‘s teilnahmen. Als der Jester schließlich reinkam und der Timemaster pflichtbewusst den Beginn des Treffens eingeläutet hatte, nahmen wir alle am großen Tisch Platz. Im Gegensatz zu sonstigen Gepflogenheiten stand nur Kaffee auf dem Tisch, lediglich der Jester selbst war ohne Bier nicht zur Teilnahme an der Diskussion zu gewinnen. Das galt im Prinzip für alle Aktivitäten des Jester‘s.

So begann eine breite Diskussion, wie man denn JETZT den Sozialismus einführen könnte. Das ganze fing klein an, wuchs sich dann aber schnell aus. Einwände von Jens und mir, man solle vielleicht erstmal definieren, was man denn genau damit meine, wurden in den Wind geschlagen. „Wir dürfen uns jetzt nicht auf Grundsatzdebatten einlassen. Das Elend ist groß genug, wir müssen handeln.“ Der ehemalige Gymnasiallehrer in der Lederjacke sprach weiter: „Mittlerweile merken selbst Leute wie Sarrazin, wie dumm sie selbst und der Rest um sie herum geworden ist. Bald wird damit nicht nur Geld gemacht, das macht die Bild ja schon seit Jahrzehnten“. Wieder Kopfnicken, aufgeregte Rassismusbeiträge, der Hinweis auf brennende Moscheen.

Jens hakte wieder nach, was man denn jetzt konkret erreichen wolle? „Na, wir müssen an die Wurzel. Hier muss ein ganz anderes System her!“ Der Jester, mittlerweile bei seinem fünften Bier, meldete sich vehement zu Wort: „Ach was! Eure Ideen werden alle zu Kommerz, die verkaufen doch alles, und bevor ihr Euch verseht, seid Ihr alle, alle scheiß Popidole!“. Wir guckten uns etwas irritiert an, und dann rief der Soziologiestudent im 65. Semester: „Die Medien! Wie müssen die Medien besetzen, den Leuten die Wahrheit zeigen. Das ist der Beginn der Revolution!“ Erst Zustimmung, dann Einwände: „Und das Internet?“ - „Das auch“ - „Du willst das Internet besetzen?“ - „Nein, nutzen.“ - „Aber ich blogge doch schon!“

Plötzlich fing der Schlagzeuger der BAND mit dem Soundcheck an. Worauf Jens brüllte "Ey, fangt mal später an, Leute, wir machen hier gerade Revolution!" Der Bassist schüttelte mit dem Kopf und nuschelte was von "Ach, ist es mal wieder soweit...". Die Diskussion ging fort, und man machte erste konkrete Pläne zur Erstürmung des lokalen Radios, während der Jester permanent von „Kommerz“ und „alles nur gekauft“ faselte. Gegen 19 Uhr war man dann bereit, zur Tat zu schreiten. Voll revolutionärem Pathos und mit einem Zehn-Punkte-Forderungskatalog bewaffnet wollten sich 20 Gestalten zum Sender aufmachen.

Doch dann erklärte Peter: "Jo, Jungs, wär' ja gern dabei, muss aber gleich zum Pilates - können wir die Revolution vielleicht auf morgen..." - Diese Bemerkung hätte er sich besser gespart, denn Jens und zwei weitere Kollegen fuhren derartig aus der Haut, dass wir sie nur mit Mühe von Handgreiflichkeiten abhalten konnten - d.h., nachdem Jens über den Tisch gesprungen war, Peter auf den Boden geworfen und durchgeschüttelt hatte. Wir konnten ihn etwas beruhigen, dennoch hatte er noch etwas Schaum vor dem Mund und wiederholte immer aufs Neue: "Pilates. PILATES! Was darf es sein: Etwas Revolution oder doch lieber Pilates? Ach nö, ich nehm erstmal Pilates,und wenn ich dann noch Zeit habe einen Antifa-Sticker... Was ist das denn für eine Toskana-Revolution? Hä". Diesen Satz sollte für die nächste Woche jeder hören, der ein Bier bestellte. Und die Revolution war ohnehin ausgesetzt - bis auf weiteres.
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